"Im realen Leben hat sich wenig geändert"

Sozialpsychologe Dr. Sebastian Winter spricht über Väter-Rollen

Dr. Sebastian Winter ist Sozialpsychologe, Privatdozent an der Universität Hannover und Dozent an der International Psychoanalytic University Berlin. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Rolle von Vätern. Im Interview mit den SOS-Kinderdörfern weltweit erklärt er, wie starre Rollenbilder Familien und Kinder prägen können, warum Väter oft an ihren eigenen Ansprüchen scheitern – aber auch, warum kein Vater perfekt sein muss.

SOS-Kinderdörfer weltweit: Welche Rolle spielen Väter heute in Familien? 

Dr. Sebastian Winter: Väter sind individuelle Menschen und auch jedes Familiensystem funktioniert anders. Zudem gibt es kulturell starke Unterschiede hinsichtlich der Rolle von Vätern. Es bringt wenig, abstrakt über „Väter“ zu sprechen – das können wir immer nur kultur-, milieu-, und historisch spezifisch tun. Allerdings gibt es durchaus gesellschaftlich vorherrschende Muster, die sich etwa auch im Väterreport der Bundesregierung zeigen: In Deutschland ist die typische Familienform ein heterosexuelles Paar mit Kindern, die Frau arbeitet Teilzeit und der Mann Vollzeit. Die Frau kümmert sich neben ihrem Job um die Kinder, das heißt, sie verrichtet unbezahlte Pflegearbeit. Nach der Geburt ihres ersten Kindes verbringen Väter oft sogar mehr Zeit mit der Lohnarbeit als zuvor, während der Anteil bei den Frauen abnimmt. An dieser Familienkonstruktion und ihrer gesellschaftlichen Dominanz hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht so viel verändert, wie man meinen möchte. 

Dr. Sebastian Winter forscht zum Thema Väter-Rollen. 

Der Stereotyp Mann ist vielerorts „stark, hart und zeigt keine Gefühle“. Was bewirkt das bei Kindern? 

Diese Vorstellung von Männlichkeit zielt darauf ab, dass der Mann von niemandem abhängt – aber alle von ihm. Ein Vater, der seinen Kindern eine solche Haltung vorlebt, bietet ihnen einen Männlichkeitsentwurf an, mit dem sie einen Umgang finden müssen. Allerdings bedeutet das nicht automatisch, dass ein Junge ein Macho wird, nur, weil der Vater einer ist. Wie ein Kind wird, kann man nicht einfach aus dem Verhalten der Eltern ableiten. Denn Kinder machen ja immer etwas Eigenes aus dem, was ihnen vorgelebt wird. Vielleicht will der Junge genauso werden wie Papa – vielleicht aber auch ganz anders. Oder das Mädchen will am liebsten sein wie der Vater, es wird ihm aber verboten.

Rollenbilder und Verhaltensmuster sitzen also tiefer, als man wahrhaben möchte..? 

Ja, aber nicht nur das „Nicht-wahrhaben-Wollen“ ist ein Problem, die Stabilität der Geschlechterordnung ist auch manchmal tatsächlich gar nicht so einfach wahrzunehmen. Denn es kommt drauf an, wohin geschaut wird: Auf der normativen Ebene, also etwa den Männer- und Väterbildern, die medial vermittelt werden, hat sich in den letzten Jahrzehnten viel getan hinsichtlich der Frage „Wie soll ein guter Mann sein?“ Inzwischen geben über die Hälfte der Männer in Umfragen an, sich intensiv um ihre Kinder kümmern zu wollen. Das ist eine deutliche Steigerung. Aber wechseln wir den Fokus und schauen auf die Realität der Arbeitsteilung, dann wird es frustrierend – denn da hat sich wenig geändert. Oder nehmen wir das Thema Femizide – immer wieder werden Frauen nach einer Trennung oder einem Trennungsversuch von ihren Expartnern ermordet. Also in Situationen, wo die Männer realisieren müssten, dass sie eben doch nicht so autonom und souverän sind, wie sie denken, und sie „ihre“ Frau tatsächlich nicht besitzen.

Diese gesellschaftliche Realität beeinflusst das Selbsterleben von Frauen und Männern – und natürlich Kindern. Männer und Jungen erleben sich oft als verletzungsmächtig, Frauen und Mädchen als verletzungsoffen. Das bedeutet, sie wachsen mit dem Gefühl „Ich kann verletzen“ bzw. „Ich kann verletzt werden“ auf. Auch auf dieser Ebene des inneren Erlebens bleibt noch vieles beim Alten.
Es ist kaum eine Situation denkbar, in der das Geschlecht überhaupt keine Rolle spielt. Das will bloß die liberale Ideologie gerne. Wie man redet und was man für richtig hält, hat sich verändert, das reale Leben und Empfinden aber deshalb noch lange nicht in gleichem Maße. Das hinkt hinterher. In der Genderforschung wird viel diskutiert, wie diese Beharrung und dieser Wandel zusammen und gleichzeitig funktionieren können.

Oftmals werden Stereotype weitergegeben. Stichwort toxische Männlichkeit. Was muss passieren, um diesen Kreis zu durchbrechen?  

Ich mag den Begriff toxische Männlichkeit nicht, da er beinhaltet, dass es eine gute und eine schlechte, also toxische, Männlichkeit gäbe. Ich denke aber, wir müssen das Geschlechterverhältnis insgesamt in Frage stellen. Es hat zu jedem gegebenen Zeitpunkt unterschiedliche Männlichkeitsmodelle gegeben. So existieren etwa intellektuelle, schwule und Gangsta-Rap-Männlichkeiten parallel und miteinander verwoben. Der vorherrschende Männlichkeitsentwurf ist immer umstritten, doch alle Männlichkeiten partizipieren an der männlichen Vorherrschaft über Frauen.

Zudem müssen wir aufpassen, Männlichkeit nicht als individuelles Phänomen zu fassen – es ist nicht nur eine Persönlichkeitseigenschaft. Wie Armut und Reichtum – das sind auch keine individuellen Eigenschaften, auch wenn die soziale Positionierung sicherlich Spuren im inneren Erleben hinterlässt. Auch die Positionen Mann / Frau markieren ein gesellschaftliches Machtverhältnis. Dieses gilt es zu verschieben. Das ist es, was der Feminismus als soziale Bewegung versucht.

Warum geht Veränderung dennoch so schleppend voran? 

Einerseits weil die geschlechtliche Arbeitsteilung tief in den funktionalen Strukturen der Gesellschaft verfestigt ist und andererseits, weil die Geschlechterordnung auch im konkreten, leiblichen Erleben verankert ist und dort eine fast naturwüchsig erscheinende Unerschütterlichkeit annimmt. Wird diese angekratzt durch Kritik von Außen oder unerwartete Empfindungen von Innen folgt Angstentwicklung und oft fast manische Abwehr – Homophobie, Antigenderismus, Frauenhass. Und zugleich existieren liberale Normen, die Stereotype kritisieren. Das erzeugt Widersprüche: Männer sollten sich selbst ernster nehmen in ihrem eigenen Anspruch, sich mehr um die Kinder zu kümmern. „Man muss sich von sich selbst nicht alles gefallen lassen“ hat der Psychotherapeut Viktor Frankl einmal gesagt. 

Oftmals scheitert das Vorhaben an den institutionellen Strukturen und Unternehmenskulturen – so ist es etwa für Männer manchmal schwieriger, Elternzeit genehmigt zu bekommen als für Frauen. Aber es sind auch innere Widersprüchlichkeiten, die hemmend wirken: Nehmen wir einen jungen Vater, der sich intensiv um sein Kind kümmern will und dann überrascht feststellt, wie sich die Arbeitsteilung mit seiner Freundin nach der Geburt „retraditionalisiert“ hat. Die „weibliche“ Haushalts- und Pflegearbeit und die „männliche“ Autonomie geraten in Konflikt miteinander, ein Clash, der junge Väter unbewusst vor der Pflegearbeit fliehen lässt. Und dann erscheinen die langen Bürozeiten plötzlich gar nicht mehr so unattraktiv…

Wie könnte ein neues Verständnis von Männlichkeit aussehen, das die alten Klischees überwindet? 

Derzeit beobachten wir, dass die Idee von involvierter Vaterschaft an Zustimmung gewinnt. Väter wollen sich kümmern. Der Begriff „caring masculinity“ ist in der Männlichkeitsforschung aktuell sehr beliebt: Er beschreibt einen Männlichkeitsentwurf, bei dem die Männer zuhause nicht dominant sind, sondern auch den Pflegepart übernehmen. Das ist als Leitbild zweifellos sehr gut. Allerdings frage ich mich, ob da nicht wieder eine Autonomie-Illusion mitschwingt: Der „caring man“ als der bessere Mann, der jetzt auch noch „weibliche“ Kompetenzen und Potenzen integriert. Eine letztlich doch wieder recht dominante Haltung. Ich finde es sinnvoller, darüber zu diskutieren, wie die Widersprüche erlebt und ausgehalten werden können. 
Anstatt sich einzubilden, man hätte schon die integrierte Lösung gefunden, könnte es helfen, das Problem überhaupt erst einmal besser zu verstehen. Wir können nicht am Reißbrett entwerfen, wie das bessere Geschlechterverhältnis aussehen wird. 

Wenn Väter erkennen, dass sie sich verändern müssen – was kann das bei ihnen selbst auslösen?

Es kann zu Schuldgefühlen führen, weil sie beispielsweise merken, dass sie mehr für ihre Kinder hätten da sein sollen. Schuldgefühle lassen uns oft davor zurückschrecken, etwas zu verändern. Deshalb ist es notwendig, einen Umgang mit Scham und Schuld zu finden. Sich mit den eigenen Fehlern auseinanderzusetzen, ist ein guter Prozess: Neues kann entstehen und es ist nie zu spät, die Richtung zu ändern. Selbstkasteiung aber führt nicht zur Erlösung, sondern eher zur Projektion des Übels auf die „Toxischen“. Kein Vater ist perfekt. Es ist gut, wenn Väter ihre Unperfektheit erkennen, dann können sie etwas verändern. 

Wie können Gesellschaften sich verändern, wenn Männer auch andere Rollen einnehmen dürfen als die „vorgegebene“? 

Es geht nicht nur um Verbote und „Dürfen“. Mit dem Männlichkeitsangebot an die Kinder ist ja auch ein Versprechen von Autonomie verbunden, davon, die Welt zu entdecken und sich anzueignen. Gefühle sind nicht per se verboten, manche sind durchaus erwünscht für Männer und Jungen, werden Frauen und Mädchen aber abgesprochen, zum Beispiel Wut und aggressive Selbstbehauptung. Es geht hinsichtlich Männlichkeit also nicht nur darum, etwas zu erlauben, sondern auch darum, das Versprechen lustvoller Machtausübung zu verändern. 

Wie wirken starre Rollenbilder auf Kinder und Jugendliche?  

Kinder und Jugendliche müssen sich mit allerlei Bildern und Rollen auseinandersetzen und sie sich aneignen. „Wer bin ich?“ Und die Antworten werden nicht nur angeboten, sondern auch aufgedrängt, aufgezwungen, ihre Verweigerung ist mit Sanktionen bewehrt – vom schiefen Blick der Erzieherin auf den Jungen mit rosa Kleidchen bis zum Femizid. Trotzdem ist das, was die Kinder dann jeweils konkret daraus machen, nicht vorhersagbar und mannigfaltig. Oft ist die Rede davon, dass Geschlechterbilder heute keine Rolle mehr spielen würden, zumindest keine „starren“, dass jede:r sein und lieben kann, was und wen er:sie will – das trifft aber nicht die Lebensrealität.

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