Waisenkinder und Kinder ohne elterliche Betreuung bedürfen eines besonderen Schutzes und einer besonderen Fürsorge. Trotzdem werden ihre speziellen Bedürfnisse häufig ignoriert und ihre Rechte verletzt.
Der Status von Waisenkindern, ihre Überlebens- und Entwicklungschancen sind auch ein Maßstab dafür, wie es um die allgemeinen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen in einem Staat und einer Gesellschaft bestellt ist. Obwohl sich in Teilbereichen und in bestimmten Regionen die Situation für Waisenkinder verbessert hat, kann aber keineswegs Entwarnung gegeben werden, im Gegenteil. Schon bloße Zahlen erschrecken.
Was ist ein Waisenkind?
Als Waisenkind wird ein Kind bezeichnet, das einen oder beide Elternteile verloren hat. Man unterscheidet zwischen Vollwaisen und Halbwaisen. Kinder, die nur noch einen Elternteil haben, nennt man Halbwaisen. Etwa ein Zehntel aller weltweiten Waisenkinder haben sowohl Mutter als auch Vater verloren: Sie sind Vollwaisen.
Wie viele Waisenkinder gibt es auf der Welt?
Nach UN-Schätzungen gibt es mehr als 150 Millionen Waisenkinder weltweit (Quelle: UNAIDS). Eine verlässliche Gesamtzahl aller Waisenkinder gibt es jedoch nicht. In vielen Ländern gibt es keine statistischen Erhebungen zu Kindern, die ohne Eltern oder andere Betreuungspersonen aufwachsen. Dies kann durchaus als Zeichen dafür verstanden werden, dass diese Kinder keine oder nur unzureichende Unterstützung bekommen, ihre Existenz verschleiert wird und kein ernsthafter politischer Wille besteht, sich um ihr Wohlergehen zu kümmern.
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Jedes zehnte Kind wächst ohne ausreichende elterliche Fürsorge auf
Tatsache ist, dass viele Millionen Kinder weltweit ohne elterliche Betreuung aufwachsen - ob nun als Voll- oder Halbwaisen oder weil Familien nicht in der Lage sind, sich um ihre Kinder zu kümmern. Die SOS-Kinderdörfer schätzen, dass etwa jedes zehnte Kind auf der Welt ohne ausreichende elterliche Fürsorge aufwächst – das sind etwa 240 Millionen Mädchen und Jungen.
Das Fehlen einer stabilen, schützenden Familie setzt Kinder einer Vielzahl von Risikofaktoren aus. Ihre körperliche, psychische und soziale Entwicklung kann durch unzureichende Ernährung, fehlenden Zugang zu Bildung oder Gesundheitsversorgung und das Fehlen der emotionalen Bindung und Unterstützung, die jedes Kind braucht, beeinträchtigt werden. Ohne einen fürsorglichen und schützenden Elternteil ist ein Kind anfälliger für Vernachlässigung, Missbrauch, Diskriminierung, Ausbeutung und Armut.
Alternative Betreuung häufig unzureichend
So gut wie alle Staaten der Welt haben die UN-Konvention über die Rechte des Kindes ratifiziert, was sich auch in Gesetzgebungen und staatlichen Initiativen zum Schutz von Kindern niederschlägt. Auch gibt es mittlerweile Empfehlungen und Maßnahmenkataloge wie z.B. die UN-Richtlinien zur alternativen Betreuung von Kindern (an denen die SOS-Kinderdörfer maßgeblich mitgearbeitet haben), die klare Vorgaben und Standards für eine qualitätsvolle, kindgerechte, die Interessen jedes einzelnen Kindes wahrnehmende alternative Betreuung außerhalb der leiblichen Familie definieren. In der Realität ist die Betreuungspraxis in vielen Bereichen jedoch meilenweit von diesen Empfehlungen entfernt - bis hin zum Extremfall, dass ein Kind überhaupt kein Zuhause und keine Bezugspersonen hat.
Viele Staaten versuchen zwar, ein Minimum an Standards in Betreuungseinrichtungen zu garantieren, es mangelt aber oft an materiellen und personellen Ressourcen und an den nötigen Mechanismen, um die Betreuungsqualität auch zu kontrollieren. Sehr oft ist die institutionelle Betreuung von Kindern etwa in Heimen und Waisenhäusern nach traditioneller Art die einzige Antwort auf den Verlust der Herkunftsfamilie; familiennahe Modelle (z. B. Pflegeelternschaft, kleine familiennah gestaltete Betreuungseinheiten wie in den SOS-Kinderdörfern, Adoption) sind Einzelphänomene.
Die Aids-Pandemie hat Millionen Kinder zu Waisen gemacht
Aids ist – neben Malaria und Tuberkulose – eine der gefährlichsten Armutskrankheiten weltweit. Globale und soziale Ungleichheit, mangelnder Zugang zu Bildung und unzureichende medizinische Versorgung befeuern weiter die Epidemie. Nach wie vor erkranken und sterben vor allem Menschen im globalen Süden an Aids – Millionen Kinder wachsen deshalb als Waisen auf, gefangen im Teufelskreis der Armut.
Im südlichen und östlichen Afrika haben besonders viele Kinder ihre Eltern durch die Aids-Pandemie verloren. Um das Jahr 2010 waren es über 10 Millionen Mädchen und Jungen, die deswegen zu Waisen wurden. Trotz der Fortschritte im Kampf gegen HIV/Aids gibt es heute weiterhin schätzungsweise über sieben Millionen Aids-Waisen in der Region (Quelle: UNAIDS)
Die meisten der verwaisten Kinder werden innerhalb der erweiterten Familie oder durch Gemeindemitglieder betreut. In vielen Fällen haben aber die Familien – etwa die Großeltern oder ältere Geschwister - selbst kaum Mittel, um die Kinder mit dem Notwendigsten zu versorgen. Institutionelle Betreuungseinrichtungen wie Kinderheime haben zwar zugenommen, nur mangelt es gravierend an adäquater Infrastruktur, entsprechenden Qualifikationen des pädagogischen Personals und Kinderschutzmaßnahmen. Finanzielle und beratende Unterstützung sowie Qualitätskontrollen vom Staat sind häufig unzureichend.
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Extreme Benachteiligung von Waisenkindern
Das Leben auf der Straße ist die letzte Station eines Kindes, das nicht in seiner Herkunftsfamilie leben kann. Aber auch Kinder ohne biologische Familie, die in irgendeiner Form betreut werden, leben in dem Risiko, weitaus geringere Möglichkeiten für eine gesunde Entwicklung und ein förderliches Umfeld zu haben als ihre Altersgenossen mit Familie. Das Bedrohungsspektrum ist groß und reicht von extremer Benachteiligung (unzureichender Zugang zu Bildung, zu medizinischer Versorgung, zu ausgewogener Ernährung etc.) über gesellschaftliche Stigmatisierung und Marginalisierung bis hin zur Tatsache, dass der Verlust der Familie grundsätzlich ein schweres Trauma darstellt, das einen Menschen ein Leben lang begleitet - und unter Umständen schwer beeinträchtigt, wenn er im Kindesalter keine Hilfestellung bei der Bewältigung erfahren hat.
Waisenkinder erleiden nachweislich massive Formen der Diskriminierung, sei es, dass ihnen das Erbe vorenthalten wird und ihnen z. B. innerhalb der erweiterten Familie leibliche Kinder der Ersatzeltern vorgezogen werden, sei es, dass sie Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch erleiden müssen, dass über ihr Schicksal entschieden wird ohne irgendeine Möglichkeit der Mitsprache, sei es, dass sie beschränkte Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten vorfinden, sei es, dass sie wie im Fall von minderjährigen Mädchen in Nepal früher verheiratet werden, sei es, dass sie mit Erreichen der Volljährigkeit aus der Betreuung entlassen werden und nicht wissen wohin.
Das Stigma des Verlassenseins
An Waisenkindern haftet der Nimbus des Unglücks, auch wenn viele Menschen für verwaiste und verlassene Kinder tiefes Mitgefühl empfinden und auch den Wunsch, etwas für sie tun. Die Lebensrealitäten vieler Millionen Kinder ohne elterliche Betreuung bleiben davon allerdings unberührt. Die gesellschaftliche Wahrnehmung und Stereotype, dass Waisenkinder es zu nichts bringen und ihr Leben nicht bewältigen werden, wirken sich fatal auf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die schwächsten Mitglieder aus. Das kann extreme Formen annehmen wie in Nepal, wo Kindern manchmal die Schuld am Tod der Eltern gegeben wird, oder weniger auffällige wie in der grundsätzlichen Haltung, der Staat müsse sich kümmern.
Mangelnde Hinwendung, inadäquate Fürsorge, Ignoranz und Diskriminierung können auf dramatische Weise das Trauma von Waisenkindern intensivieren - und letztlich dafür sorgen, dass sie es wirklich nicht schaffen, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen.