Kolumbien: Kultur stärkt Identität

Wie sich die SOS-Kinderdörfer in Kolumbien für indigene Familien engagieren

"Meine Großeltern konnten diese Dinge noch – jetzt lerne ich sie auch!"

Martha traute ihren Ohren kaum, als sie ihre Kinder "Los Pollitos" singen hörte, das Lied von den kleinen Küken, und zwar in Emberá, der Sprache ihrer Vorfahren. Yeison (5) und Alexandra (3) hatten den Nachmittag wie gewohnt in der Kindergruppe des Sozialzentrums der SOS-Kinderdörfer verbracht, und auf dem Nachhauseweg sangen sie lauthals dieses Kinderlied.

Traditionelles Wissen stärkt das Selbstwertgefühl der Menschen.

Martha kannte es nur zu gut, denn ihr Großvater hatte es ihr oft vorgesungen. "Ich bin hier im San-Lorenzo-Reservat aufgewachsen, habe aber nie gelernt, Emberá zu sprechen, denn in der Schule wird es nicht unterrichtet. Und plötzlich fingen meine Kinder an, dieses Lied auf Emberá zu singen! Sie sangen es von nun an ständig. Einfach immer und überall. Die Mitarbeiterinnen von den SOS-Kinderdörfern sind hier die einzigen, die Emberá unterrichten, die Sprache meines Volkes", so Martha.

"Ich habe im Sozialzentrum gelernt, Körbe zu flechten. Und aus Heilpflanzen Salben herzustellen. Meine Großeltern konnten diese Dinge noch – jetzt lerne ich sie auch und verkaufe die Sachen dann auf dem Markt! Doña Luz Cely, die das Familienhilfe-Programm leitet, hat uns auch einmal über die heiligen Berge von San Lorenzo erzählt. Von denen hatte ich noch nie gehört, dabei bin ich hier im Reservat aufgewachsen!", erzählt Matha. "Am besten gefällt mir an den Mitarbeiterinnen der SOS-Kinderdörfer, dass sie die Bräuche der Emberá-Chami achten und mit uns zusammen wiederaufleben lassen."

SOS-Familienstärkung in Riosucio

Im Nordwesten Kolumbiens liegt die Gemeinde Riosucio. Heute vor allem als Kaffeeanbaugebiet bekannt, galt die Region rund um Riosucio lange Zeit als Eldorado für Goldsucher. Das Gold von Riosucio sind heute, neben dem Kaffee, weitere landwirtschaftliche Produkte wie Zuckerrohr, Mais und Bananen, außerdem Rinder-, Geflügel- und Fischzucht. Die Emberá-Chami, jener indigene Stamm, der seit der Antike in der Gegend lebt, profitieren wenig vom Ertrag ihrer Heimat. Ihre Angehörigen sind schlecht bezahlte Tagelöhner, ohne geregeltes Einkommen oder soziale Absicherung; Bildung und medizinische Versorgung werden ihnen vorenthalten.

Für diese Menschen und ihre Kinder entstand im San-Lorenzo-Reservat von Riosucio 2006 ein Sozialzentrum der SOS-Kinderdörfer. Die dortigen Berufsausbildungskurse sind ein wichtiger Pfeiler unserer Arbeit, eröffnen sie den Teilnehmer*innen doch ganz neue berufliche Perspektiven. Sowohl Jugendliche als auch Erwachsene werden intensiv beraten und bei der Jobsuche begleitet, denn der Staat bietet keine derartigen Initiativen.

Auch die Selbstversorgung durch Obst- und Gemüseanbau oder Kleintierzucht wird gelehrt und durch Mikrokredite gefördert. Verloren gegangenes Wissender Indigenen wird zum Wohl der Familien eingesetzt. Den Lebensunterhalt der eigenen Familie mit Tätigkeiten sichern, die schon die Vorfahren erfolgreich betrieben, trägt viel zum Selbstwertgefühl der Menschen bei. Die klassische SOS-Familienstärkung greift auch bei den indigenen Familien von Riosucio:

  • Begleitung von Familien in Krisen durch Aufstellen eines Familienplans
  • Stärkung der Gemeinden, indem Familien lernen, Netzwerke zu bilden
  • Unterstützung bei Einschulung und Hausaufgabenbetreuung der Kinder, denen später einmal alle Wege offenstehen sollen

Eines der wichtigsten Arbeitsfelder bei der Stärkung indigener Völker ist die Förderung ihrer kulturellen Identität. Das, was jahrhundertelang klein gemacht, verächtlich belächelt, ignoriert wurde, erhält wieder die gebührende Wertschätzung. Die Kinder und Jugendlichen blühen regelrecht auf, wenn sie erfahren, was ihre Ahnen alles geleistet haben.

 

Hilfe für Kinder in Not

Handeln, bevor Kinder auf der Straße landen: Die SOS-Kinderdörfer unterstützen Familien, damit Eltern ihren Kindern aus eigener Kraft eine Perspektive bieten können.

 

Indigene in Kolumbien: Gesetzgebung und Realität klaffen weiterhin auseinander

Ganz anders als im mehrheitlich von Maya bevölkerten Guatemala machen die Indigenen in Kolumbien gerade einmal 4,4 % der Einwohner aus. Der Niedergang der Ureinwohner begann 1492 mit der Ankunft von Kolumbus. 100 Jahre später war die Zahl der Indigenen auf 10 % der ursprünglichen Bevölkerung geschrumpft.

Nicht nur den Einheimischen geschah großes Unrecht: Sklaven aus Afrika wurden nach Kolumbien verschifft, um mit den Indigenen zusammen für die Kolonialherren zu arbeiten. Kolumbus selbst hatte auf einer seiner Reisen auch einige Roma mit nach Kolumbien gebracht. Sie bilden bis heute, neben Indigenen und Afro-Kolumbianern, die dritte Gruppe der am Rande der kolumbianischen Gesellschaft Lebenden.

Wie in vielen Ländern der Welt, formierten sich in den 1970er Jahren auch in Kolumbien Protestbewegungen innerhalb der Ausgegrenzten, die vom Staat ihre Rechte einforderten. Doch es dauerte noch bis 1991, als durch ein neues Gesetz Minderheiten endlich sichtbar wurden. Heute kaum vorstellbar, hatten Indigene zuvor nicht dieselben Bürgerrechte wie die übrigen Kolumbianer gehabt. Unter einem seit 1880 geltenden Gesetz entschieden Staat und Kirche, wie mit den laut Gesetzestext "Wilden" (Savajes) umzugehen sei. Die Indigenen hatten vor dem Gesetz den Status von Kindern, sprich: Sie galten als nicht geschäftsfähig, als Wesen, die gelenkt und kontrolliert werden muss-ten. Das betraf folgerichtig auch die Führung und Nutzung der Reservate, die noch die spanischen Kolonialherren den Einheimischen zugesprochen hatten.

1991 kam dann die lang ersehnte Wende, als die Nationalversammlung die indigenen Völker als gleichwertige Bürger Kolumbiens anerkannte. Alle indigenen Sprachen werden seitdem als offizielle Landessprachen gewürdigt. Das kulturelle Erbe der Indigenen steht ebenso unter Schutz wie ihr Land – zumindest auf dem Papier. Denn die Realität sieht anders aus. Die heutigen Konflikte in Kolumbien kreisen um Land und Bodenschätze. Internationale Gelder und Interessen bestimmen in weiten Teilen des Landes das Leben der Menschen. Drogenkartelle, rechte und linke Extremisten kontrollieren große Gebiete und setzen ihre Herrschaftsansprüche mit brutaler Gewalt durch. Opfer der Gewalt sind vor allem Indigene.

Die SOS-Kinderdörfer begannen 1971 mit ihrem Engagement in Kolumbien. Unsere Kolleg*innen vor Ort begleiteten die Indigenen auf ihrem mühsamen Weg bis hin zur offiziellen Anerkennung ihrer Rechte Anfang der 1990er Jahre. Das Leben der Menschen ist seitdem nicht einfacher geworden, denn Gesetzgebung und Realität klaffen weiterhin auseinander. Ausgehend von elf Sozialzentren der SOS-Kinderdörfer im Land fördern wir deshalb indigene Familien und ihre Gemeinden. Die Mit-arbeitenden der SOS-Kinderdörfer in Kolumbien sind zum Großteil selbst Indigene, sie sprechen die Sprache(n) der Menschen und wissen um ihre Lebensumstände. So geht Entwicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe.

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