Obwohl in den Entwicklungszielen 2030 sowie der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen die Eliminierung der weiblichen Genitalverstümmelung sowie das Recht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit festgehalten sind, wird die grausame Tradition weiterhin in vielen Ländern fortgesetzt. Laut Schätzungen der UN sind allein im Jahr 2023 mindestens vier Millionen Mädchen der Gefahr ausgesetzt, Opfer von FGM (Female Genital Mutilation) zu werden, oder wurden es bereits. Die UN-Prognose für die nächsten zehn Jahre sieht sogar noch düsterer aus: Bis zu 70 Millionen Frauen könnten beschnitten werden, wenn die Praxis nicht gestoppt werde.
In rund 30 Ländern – vor allem in Afrika, Asien und dem Mittleren Osten – werden Mädchen trotz internationaler Bemühungen weiterhin regelmäßig genitalverstümmelt. In etwa 60 weiteren Staaten ist die Beschneidung noch existent, aber nicht mehr der Regelfall. Derzeit gibt es mindestens 200 Millionen FGM-Überlebende. Eine von ihnen ist Mariama Gingally aus Gambia, wo 75 Prozent der 14- bis 49-Jährigen, sowie die Hälfte aller Mädchen unter 14 Jahren beschnitten sind. "Als ich vier oder fünf Jahre alt war, wurde ich Opfer der Beschneidung", erzählt die heute 31-jährige Lehrerin. "Jetzt findet es hier in der Gegend nicht mehr statt, weil die SOS-Kinderdörfer die Menschen über die schlimmen FGM-Folgeschäden aufgeklärt, und so zum Umdenken bewegt haben."
Hilfe zur Selbsthilfe
Mit Hilfe zur Selbsthilfe und Aufklärungsprogrammen haben die SOS-Kinderdörfer im Bezirk Foni Frauen wie Mariama gestärkt, sodass sie nicht nur mit den körperlichen und seelischen Folgen besser umgehen, sondern auch auf eigenen Beinen stehen können. Durch das gewonnene Bewusstsein schützen die beschnittenen Frauen nun ihre Töchter und die der anderen Gemeindemitglieder. "Wenn wir mitbekamen, dass eine Beschneiderin zur Tat schreiten wollte, riefen wir die Sozialarbeiterin der SOS-Kinderdörfer, Kaddy, damit sie die Polizei alarmiert", berichtet Mariama. Denn offiziell ist FGM seit 2015 illegal in Gambia, so wie auch in den meisten anderen Ländern. Trotzdem müssen weiterhin Mädchen weltweit die Prozedur über sich ergehen lassen.
Die weibliche Beschneidung, bei der zum Beispiel die Klitoris und/oder die Schamlippen abgetrennt werden, kann zum Tod durch Verbluten führen. Dazu kommt neben den unvorstellbaren, kurz- und langfristigen Schmerzen noch das Risiko für die Ansteckung mit Infektionskrankheiten wie HIV. "Die Beschneidung kann alle möglichen Krankheiten hervorrufen, unter anderem, weil dabei unsaubere Rasierklingen oder Messer gleich für mehrere Mädchen benutzt werden", berichtet Kaddy Manka, die sich unter anderem bei den SOS-Kinderdörfern als Sozialarbeiterin für beschnittene Frauen einsetzt.
Lebenslange Traumata
Die Beschneidungen werden meist unter unhygienischen Bedingungen durchgeführt auf staubigem Boden im Busch. Dort breiten sich Bakterien besonders schnell aus. "Manche Mädchen kehren nicht mehr zurück", sagt Kaddy. Sie selbst wurde auch als Kind beschnitten: "Dir wird ein sehr sensibler Teil entfernt. Das wirkt sich auf deine Persönlichkeit und auf dein Privatleben aus. Es kann traumatische Folgen für den Rest deines Lebens hervorrufen – psychisch und physisch."
Aufklärung über eigene Rechte
In Zusammenarbeit mit geistigen und kulturellen Leitfiguren in den Gemeinden, sowie Ärzt:innen und Geburtshelfer:innen, führen die SOS-Kinderdörfer regelmäßig Kampagnen durch, in denen die Menschen über die schädliche Praktik sowie die Rechte von Kindern und Frauen aufgeklärt werden. Dadurch konnten viele Mädchen vor der Tortur bewahrt werden. Kaddy berichtet: "Die Ansteckung und Verbreitung von Krankheiten ist dadurch zurückgegangen. Auch die Gewalt hat abgenommen, denn wenn ich meine Rechte kenne, kann ich mich wehren, wenn jemand meine Rechte verletzt. Und FGM ist definitiv Gewalt gegen kleine Kinder! Ich habe die Hoffnung, dass die nächste Generation eine gesunde Generation sein wird." Auch in anderen Ländern konnte die Frauengesundheit durch die Aufklärungsarbeit deutlich verbessert und in einigen Gegenden FGM sogar komplett gestoppt werden. Eine weitere erfolgreiche Maßnahme sei es laut Kaddy auch, den Beschneiderinnen eine andere Arbeit zu vermitteln, damit sie ihren bisherigen "Job" nicht mehr ausüben.
Frauenstärkungsprojekt in Guinea-Bissau
Die SOS-Kinderdörfer sind unter anderem auch in Guinea-Bissau aktiv, wo etwa die Hälfte aller 14- bis 49-jährigen Frauen beschnitten wurden. In sieben Gemeinden von Gabú haben die SOS-Kinderdörfer im September 2022 ein Projekt zur Stärkung von Frauen als Schutz vor geschlechterbasierter Gewalt gestartet. Dessen Koordinator vor Ort ist Carlos Humberto Butiam Có: "Es schmerzt mich, dass FGM in Guinea-Bissau immer noch häufig vorkommt, obwohl es ein Gesetz gibt, das diese Praxis verbietet und verurteilt. Im Kampf gegen FGM ist es besonders wichtig, den Mantel des Schweigens zu lüften, der über alles gelegt wird, was mit der Beschneidung von Frauen zusammenhängt. In unseren Sensibilisierungsgesprächen klären wir Frauen und Männer umfassend auf."
Gründe für FGM
Neben Workshops für mindestens 2.000 Menschen werden in den Gemeinden Ausschüsse gegen geschlechtsspezifische Gewalt aufgebaut und aktive Vereine gestärkt, damit sie sich für die Rechte von Frauen einsetzen können. Geduld und jede Menge Überzeugungsarbeit seien laut Carlos Humberto Butiam Có notwendig, um ein Umdenken in den Köpfen zu bewirken. "Denn die Gemeinschaften, die FGM praktizieren, glauben, dass die Entfernung der weiblichen Geschlechtsorgane für das junge Mädchen unerlässlich ist, um ein vollwertiges Mitglied ihrer Gemeinschaft zu werden. Des Weiteren spielen spirituelle und religiöse Gründe eine Rolle. Praktizierende Gruppen glauben, dass die Beschneidung sicherstellt, dass junge Mädchen spirituell rein sind." Außerdem glauben Befürworter:innen von FGM, dass ein nicht beschnittenes Mädchen einen übermäßigen und unkontrollierbaren Sexualtrieb habe, der für den vorzeitigen Verlust der Jungfräulichkeit verantwortlich sein würde. Diese "Gefahr" solle durch die Beschneidung gebannt werden. "Mein aufrichtiger Wunsch ist es, dass junge Mädchen körperlich unversehrt aufwachsen, ohne ihren sozialen Wert zu verlieren. Dass sie Bildung erhalten und ihre Träume verfolgen können, ohne durch Beschneidung, Zwangsheirat und andere schädliche Praktiken, die ihre Zukunft gefährden, zurückgehalten werden", so Butiam Có.
SOS-Kinderdörfer im Kampf gegen FGM
Die SOS-Kinderdörfer setzen sich weltweit gegen geschlechtsspezifische Gewalt ein. Mitarbeitende stärken Mädchen und Frauen im Rahmen von Familienstärkungsprogrammen in Form von Bildung, Beratung und Aufklärung. In mehreren afrikanischen Ländern wie beispielsweise Kenia, Äthiopien, Somalia und Senegal gibt es spezielle Selbsthilfegruppen, medizinische Versorgung und weitere gezielte Maßnahmen gegen die ausnahmslos schädliche Genitalverstümmelung von Frauen und für einen Wandel in den Gemeinden, um FGM zu eliminieren.