08. März 2022 | NEWS

"Alle sollen wissen, dass wir in der Hölle leben"

Interview mit Projektleiterin der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine

Kinder in der Ukraine in Luftschutzkeller. Foto: SOS-Kinderdörfer Ukraine

Interview mit Darya Kasyanova, Projektleiterin der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine und Vorsitzende des ukrainischen Netzwerks für Kinderrechte. Sie spricht über die erschütternde Situation und die Bemühungen, so viele Kinder wie möglich zu evakuieren.

Darya, Leiterin für Programmentwicklung der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine. Foto; Privat

Frau Kasyanova, wie waren Sie auf die aktuelle Situation vorbereitet?

Ich habe schon einmal ähnliche Erfahrung gemacht. Im Jahr 2014, als der Krieg im Donbass begann, arbeitete ich für eine andere Organisation in Donezk. Damals gelang es uns, alle Pflegefamilien und Kinder, die in Heimen untergebracht waren, rechtzeitig umzusiedeln.

Als sich jetzt abzeichnete, dass ein Krieg bevorsteht, kommunizierten wir bereits im Dezember 2021 mit der Regierung, um vorbereitet zu sein. Dann begann der Krieg doch sehr plötzlich und alles änderte sich schnell.

Wie viele Kinder leben in den Gebieten, die nun in der Gefahrenzone sind?

Rund vier Millionen Kinder, davon ungefähr 1,5 Millionen Kinder in Brennpunkten der eingeschlossenen Städte wie etwa Irpin, Mariupol, Stanytsia Luhanska oder Sievierodonetsk. Wir beobachten vor allem die Situation der Kinder in den dortigen Heimen sehr genau. Erst am vergangenen Samstag ist es uns gelungen, rund 150 Kinder im Alter von 0 bis drei Jahren aus vier Kinderheimen in Charkiw herauszuholen. Das Personal wollte die Stadt nicht verlassen und eine Evakuierung der Kinder ohne sie wäre illegal gewesen. Wir haben drei Tage auf sie eingeredet, bis sie schließlich eingewilligt haben.

Wir wissen von einem anderen Kinderheim mit etwa 50 Kindern in Vorzel bei Kiew, das seit etwa fünf Tagen isoliert ist. Es ist kein Kontakt mehr möglich. Wir können sie telefonisch nicht erreichen und der Zugang ist blockiert.

Was tun Sie in so einer Situation?

Gemeinsam mit meinen Kolleg:innen habe ich an das UN-Kinderrechts-Kommittee geschrieben und um einen Korridor für humanitäre Hilfe gebeten. Informell haben sich die Parteien geeinigt, aber in der Praxis funktioniert es nicht. Die Streitkräfte schießen auf Busse voller Menschen und sogar auf Leute, die zu Fuß evakuiert werden.

Daher flüchten Menschen auf eigene Faust und nehmen mit, was sie tragen können. Ukrainische Soldaten helfen ihnen, Kinder oder ältere Menschen, die nicht mehr laufen können, zu tragen.

Am Sonntag starb in Irpin eine Familie mit zwei Kindern. Sie waren gerade dabei, eine Brücke zu überqueren, an der ukrainische Soldaten den Menschen halfen. Genau in diesem Moment wurde das Feuer eröffnet. Zwei Kinder tot - so laufen die Evakuierungen.

Wie ist die Situation in den eingeschlossenen Städten?

Da besteht die Gefahr, nicht nur durch Kugeln und Bomben, sondern auch an Hunger und Kälte zu sterben. Genau darum brauchen wir so dringend sichere humanitäre Korridore. Die Menschen verstecken sich in kalten Kellern, teilweise halten sich dort Hunderte von Kindern auf.

Ich war in einem Keller, in dem es wenigstens etwas Wasser und Brot gab. Inzwischen kann man nichts mehr kaufen. Es gibt vielerorts auch keine Heizung mehr und die Temperatur fällt nachts auf -8 Grad. Es gibt keinen Strom, die Menschen können ihre Telefone nicht mehr aufladen. Auch Generatoren funktionieren nicht mehr, weil es kein Benzin mehr gibt.

In den Kellern sind viele Mütter, die ihre Babys nicht mehr stillen können, weil vor Stress und Hunger die Milch ausbleibt. Es gibt auch keine Babynahrung. Viele Kinder sind vom Hungertod bedroht.

Wie geht es Ihrer eigenen Familie?

Ich habe zwei Töchter. Die ältere ist 19 Jahre alt und hat das schon einmal erlebt, als sie elf war und wir unser Haus in Donezk verlassen mussten. Für sie ist es furchtbar, dass wieder Krieg herrscht. Ihretwegen haben wir unser Haus in Irpin bis vor zwei Tagen nicht verlassen. Sie war kategorisch dagegen, wegzugehen. Sie sagte: "Ich will nicht zum zweiten Mal mein Zuhause verlieren."

Meine jüngere Tochter ist zwei Jahre und acht Monate alt. Wir haben für sie Märchen erfunden und behauptet, das Geräusch von Bomben sei Donner. Aber als wir dann in die Westukraine fuhren, fragte sie jedes Mal, wenn sie das Geräusch hörte: "Was ist das? Schüsse?"

Es ist niederschmetternd zu wissen, dass meine beiden Töchter bereits Krieg erlebt haben, obwohl 17 Jahre Altersunterschied zwischen ihnen liegen.

Denken Sie darüber nach, ins Ausland zu gehen?

Wir haben viele Angebote bekommen, wofür ich sehr dankbar bin. Aber derzeit bleiben wir. Mein Mann war lange nicht zu Hause, er kam, um uns aus Irpin zu retten. Meine jüngere Tochter ist nun so auf ihren Vater fixiert, dass sie keinen Schritt von seiner Seite weicht. Sie wacht nachts auf und fragt: "Wo ist Papa?" Als Mann darf er die Ukraine wegen der Mobilmachung nicht verlassen. Deshalb bleiben wir zusammen hier, solange es geht. Ich werde auch für die SOS-Kinderdörfer arbeiten, so lange ich kann. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.

Wie können die SOS-Kinderdörfer in der Ukraine derzeit unterstützen?

Wir müssen uns auf die humanitären Maßnahmen in den Gebieten konzentrieren, in denen die meisten Binnenvertriebenen sind. Wir werden weiterhin die Umsiedlung von Pflegefamilien an sicherere Orte koordinieren.

Eine unserer größten Aufgaben ist auch die Unterstützung unserer Mitarbeiter:innen. Wir müssen ihnen helfen, seelisch stabil zu bleiben. Sie brauchen psychologische Unterstützung, damit sie weiterarbeiten können. Unsere Teams leisten fantastische Arbeit in dieser schwierigen Situation.

Sie wurden bereits als Heldin bezeichnet. Was sagen Sie dazu?

Ich glaube nicht, dass ich eine Heldin bin oder besonders mutig. Ich denke, wir Frauen brechen in Stresssituationen nicht zusammen. Zumindest ist das bei mir der Fall. Ich reiße mich zusammen, ich fokussiere und konzentriere mich. Das ist Selbstschutz.

Ich habe nun zum zweiten Mal mein Haus verloren. Die Situation ist sehr unsicher. Wenn man über diese Ungewissheit nachdenkt, kann man wirklich den Verstand verlieren, aber das ist keine Lösung. Panik hilft nicht weiter. Ich versuche mich statt dessen auf das zu fokussieren, was ich kann. Meine Kolleg:innen machen es genauso.

Wir konzentrieren uns darauf, wie wir Kindern und Mitarbeitenden helfen können. Wir versuchen, Familien zu retten, und wir sind froh, dass es funktioniert. Wir sind uns auch darüber im Klaren, dass es nicht so schnell besser werden wird.

Möchten Sie den Menschen sonst noch etwas mitteilen?

Danke an alle, die ihre Solidarität bekunden. Danke an die Menschen, die helfen und unterstützen. Die Kinder und Familien in der Ukraine brauchen Ihre Hilfe!

Ich möchte, dass alle wissen, dass das, was hier in der Ukraine und in Europa geschieht, die Hölle ist. Ich möchte, dass jeder weiß, dass wir in der Hölle leben.

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