Gaza: Ein Zuhause auf Zeit im Chaos des Kriegs

Chaos, Gewalt und Verzweiflung sind Alltag im Flüchtlingslager Khan Younis. Auf der Flucht vor Bomben, in der Menschenmenge vor den Essensausgaben – Kinder verlieren ihre Eltern in vielen Situationen. Aber es gibt einen Ort, an dem sie aufgefangen werden: Die SOS-Kinderdörfer haben ein Camp errichtet für Kinder, die ihre Eltern im Chaos des Krieges nicht mehr wieder finden oder deren Eltern getötet wurden.

In vier Zelten der SOS-Kinderdörfer leben 60 Kinder. Jedes einzelne hat seine Geschichte, hier erzählen wir zwei davon: Die der sechs Geschwister, die warten, dass ihr Vater wieder aus dem Krankenhaus kommt. Und die Geschichte von Fares, dessen Eltern wir fast zwei Jahre lang gesucht haben.

Seit Mitte des Jahres bewohnen sechs Geschwister eines der Zelte der SOS-Kinderdörfer. Die Kinder sind zwischen 5 und 15 Jahre alt und haben ihre Mutter unter katastrophalen Umständen verloren. Sie ging wie jeden Morgen zur Arbeit in ein Gesundheitszentrum, in dem sie psychologische Hilfe für traumatisierte Menschen anbot. Auf dem Weg nach Hause wurde sie angeschossen. In kürzester Zeit verlor sie Unmengen an Blut und wurde sofort ins Krankenhaus gebracht.

Beide Eltern im Krankenhaus

Als ihr Mann erfuhr, dass es um Leben und Tod ging, ließ er alles stehen und liegen und fuhr zu seiner Frau. Und dann geschah noch etwas, das die sechs Kinder bis heute traumatisiert: Auch der Vater wurde fast von einer Kugel getötet. Er kam ins selbe Krankenhaus. Die Mutter rang nur ein paar Zimmer weiter mit dem Tod und verstarb, ohne ihren Mann und ihre Kinder noch einmal gesehen zu haben.

„Es ist schwer mitanzusehen, wie sehr die Kinder trauern." 

Fatima, Sozialarbeiterin bei den SOS-Kinderdörfern

Seit dem Tod seiner Frau ist der Vater nicht mehr derselbe. Er steht immer noch unter Schock und seine körperlichen Verletzungen verheilen nur schleppend. Da es keine anderen Verwandten gibt, kamen die Kinder zu Fatima, einer Betreuerin bei den SOS-Kinderdörfern, die die Kinder nun mit viel Feingefühl versorgt. Die Geschwister sind bei ihr in Sicherheit, erhalten regelmäßige Mahlzeiten und psychosoziale Hilfe.

Trauern, während das Leben weitergeht

"Es ist schwer mitanzusehen, wie sehr sie trauern und unter dem Verlust ihrer Mutter leiden", sagt Fatima. "Aber langsam, sehr langsam begreifen sie, dass das Leben weitergeht." Nachdem die Geschwister einige Monate bei Fatima waren, besuchten sie ihren Vater im Krankenhaus. "Die Kinder werden nach und nach darauf vorbereitet, wieder bei ihrem Vater zu leben", erklärt Fatima. "Wir versuchen, eine Unterkunft in der Nähe zu finden. Und natürlich erhalten alle zusammen weiterhin Unterstützung von den SOS-Kinderdörfern."

 

Kind aus Gaza. Foto: Hosny Salah

Spenden für Kinder in Palästina

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Fares geht verloren

Auch Fares fand im Camp der SOS-Kinderdörfer ein fürsorgliches Zuhause auf Zeit: An einem kalten Morgen im Januar 2024 stand ein Imam vor dem Gelände der SOS-Kinderdörfer. Auf dem Arm hielt er  Fares, damals zwei Jahre alt. "Ich habe ihn vor der Moschee gefunden, er war ganz alleine", erzählte er der Familienkoordinatorin. Sie nahm den Jungen auf und übergab ihn Hidaya, einer erfahrenen Betreuerin der SOS-Kinderdörfer. Fares zog in ihren Camper ein. 

In den folgenden Monaten versuchte Ibrahim, Sozialarbeiter bei den SOS-Kinderdörfern in Palästina, Fares' Familie ausfindig zu machen. Aber im Krieg bleiben die Menschen selten lange an einem Ort. Ihre Häuser werden zerstört, sie werden immer wieder vertrieben, und in all dem Chaos war es für Ibrahim fast unmöglich, Fares‘ Eltern oder andere Verwandte zu finden. Auch Ibrahim hat sein Zuhause bei Bombenangriffen verloren und lebt im Camp.

In der Zwischenzeit betreute Hidaya den kleinen Fares. Er bekam regelmäßige Mahlzeiten – keine Selbstverständlichkeit in Khan Younis - und wurde von einer Therapeutin behandelt. 

Ein glückliches Wiedersehen

Spielende Kinder im Flüchtlingslager Khan Younis
In den Zelten der SOS-Kinderdörfer ist Raum zum Spielen. Foto: Mohammad Al Baba

Eineinhalb Jahre waren verstrichen, als Fares plötzlich krank wurde und ins Krankenhaus musste. Ibrahim hatte nicht aufgegeben, seine Eltern zu finden und bat die Krankenhausverwaltung, nachzusehen, ob sie die Adresse von Fares Eltern in der Datenbank hatten. Vielleicht waren seine Eltern auch hier gewesen? Und tatsächlich erhielt er eine Adresse.

Es ist kein leichter Prozess ein Kind nach so langer Zeit wieder an seine Eltern zu gewöhnen. Doch bei Fares ging es sehr schnell: Als sein Vater das Gelände betrat, rannte er los. Sein Vater umarmte ihn, nahm ihn auf den Arm und drückte ihn an sich. Es war eine Szene, die alle noch lange im Gedächtnis behalten würden.

Fares’ Eltern leben in einem Zelt, nicht weit von der Moschee entfernt, in der Fares gefunden wurde. Die gesamte Familie ist nun Teil des Familienstärkungsprogramms der SOS-Kinderdörfer: Sie erhalten Essen, Kleidung für das Kind und alle notwendigen Vorräte, aber auch psychologische Betreuung und Familienberatung.

"Ich werde Fares vermissen", gibt Hidaya zu. "Aber zu wissen, dass er wieder bei seiner Familie ist, das macht uns alle glücklich."

*Name zum Schutz des Kindes geändert