"Ich will nur wieder glücklich sein"

Warum lässt jemand alles zurück? Als ich Projekte der SOS-Kinderdörfer in Mexiko besuchte, traf ich Familien, die aus ihren Heimatländern geflohen waren – und fand zutiefst bittere und beklemmende Antworten auf diese Frage.

"Ich will nur wieder glücklich sein"

Am meisten bleibt mir das von Schmerz gezeichnete Gesicht der Frau aus Nicaragua in Erinnerung, die wir in Tapuchula getroffen haben – auf dem Hauptplatz, dem Treffpunkt vieler Flüchtlinge aus Mittelamerika, die es bis hierher, in den äußersten Süden Mexikos, geschafft haben. Sie erzählt meiner mexikanischen Kollegin stockend und verzweifelt die Gründe ihrer Flucht mit ihren zwei Kindern aus Nicaragua, dann bricht sie still in Tränen aus.

"Meine 11-jährige Tochter haben sie entführt und umgebracht. Sie haben mir mein Liebstes genommen, weil ich den Mörder meines Vaters und meines Bruders angezeigt habe."

Mutter aus Nicaragua

Das kleine Mädchen neben ihr, ihre jüngste Tochter, ist die einzige, die ihr jetzt Halt geben kann. Und man spürt in diesem Moment deutlich ihre Angst, auch sie zu verlieren: „Ich bange um das Leben meiner Kinder, meine 11-jährige Tochter haben sie entführt und umgebracht. Sie haben mir mein Liebstes genommen, weil ich den Mörder meines Vaters und meines Bruders angezeigt habe. Ich hatte bis zuletzt die Hoffnung, sie wieder in meine Arme schließen zu können.“

Die Mütter an der Grenze zu Mexiko erzählen unvorstellbare Geschichten von Grausamkeit und Unterdrückung, die den Alltag in ihren Heimatländern Honduras, El Salvador, Guatemala und Nicaragua ausmachten. Foto: Alea Horst 

Das lerne ich sogleich auf meiner Projektreise, Gründe gibt es viele, seine Heimat zu verlassen: Arbeitslosigkeit, Armut, keine Perspektiven auf ein Fortkommen für sich selbst und die Kinder und zuletzt Hoffnungslosigkeit. Für viele aber, mit denen wir sprachen, ist die brachiale und perfide Gewalt krimineller Banden der Hauptgrund für die Flucht. Auch Bandillas oder Maras genannt, haben sie in vielen Regionen Mittelamerikas, wo der Staat sich zurückgezogen hat oder zu schwach ist, sie zu bekämpfen, das Sagen. Sie erpressen Schutzgelder, bedrohen jene, die nicht mehr zahlen wollen und deren Familien mit dem Tode und machen davor in vielen Fällen nicht Halt.

Die meisten der Entwurzelten, die uns in Tapachala, nahe der Grenze zu Guatemala, ihre Geschichten von Gewalt und Mord an ihren Liebsten anvertrauen, haben gerade Familienangehörige verloren und mussten sich von ihnen trennen. Angst, Gewalt und Mord sind die häufigsten Vokabeln. Sie sind immer noch traumatisiert. Man spürt auch hier in Mexiko noch ihre große Sorge vor Verfolgern.

Ich bin wütend, traurig, fühle mich elend – spüre aber, dass Zuhören jetzt das einzige ist, was ich tun kann. Das einzige, was in diesem Moment wichtig ist. Die Geschichten für die Gründe von Flucht sind bitter und beklemmend.

"Alles was ich möchte, ist keine Angst mehr haben vor kriminellen Bandenmitgliedern, die mir auflauern, mich und meine Großeltern mit dem Tod bedrohen und erpressen."

Junger Mann aus Honduras
SOS-Kinderdorf Comitán: Der 18-jährige Honduraner Jorge hat Aufnahme im SOS-Kinderdorf Comitán in Chiapas gefunden. Hier wird er auf seine Selbständigkeit vorbereitet. Mit einer Fortbildung als Kuchenbäcker kann er schon bald mit selbstverdientem Geld ein Leben außerhalb des Kinderdorfs führen. Sein ursprüngliches Ziel USA hat er aufgegeben, er will in Mexiko bleiben. Foto: Alea Horst

Für die meisten der Flüchtlinge ist es nicht leicht, das Erlebte in Worte zu fassen. Die meisten beginnen zögerlich, dann aber sprudelt es aus ihnen heraus: „Alles was ich möchte, ist keine Angst mehr haben vor kriminellen Bandenmitgliedern, die mir auflauern, mich und meine Großeltern mit dem Tod bedrohen und erpressen, damit ich Drogen an meine Schulkameraden verkaufe.“ So der junge Mann Jorge aus Honduras, der jetzt in der Obhut des SOS-Kinderdorfes Comitán im Süden Mexikos Ausbildung erfährt und auf ein sicheres und selbstbestimmtes Leben hofft. Er möchte in Mexiko bleiben, den Traum von Amerika hat er begraben.

„Wir wollen in Frieden leben, nicht einen Großteil meines hart erarbeiteten Geldes als Taxifahrer an Bandenmitglieder abführen, die mich, meine Frau und unsere beiden Söhne mit Entführung und Ermordung erpressen, wenn ich mich weigere weiter Schutzgelder zu zahlen.“ Die Familie ist noch ganz am Anfang ihrer Flucht durch Mexiko, wartet auf Papiere für die legale Weiterreise und kann sich auch vorstellen, in Mexiko zu bleiben, wenn sie sich hier nur weit genug weg von ihrer Heimat Honduras und in Sicherheit eine neue Existenz aufbauen können.

„Jahrelang sind wir im eigenen Land vor ihnen geflohen, sie bedrohten meine ganze Familie mit dem Tod, weil sie glaubten, dass meine Mutter gegen die Freundschaft meiner Schwester mit dem Mara war. Aber meine Schwester wollte es doch selbst nicht, sie haben sie einfach umgebracht.“ Die Frau, die wir mit ihren 2 Kindern und ihrer Mutter in einem Flüchtlingsheim in Tijuana an der Grenze zu den USA getroffen haben, sieht ihre Chancen auf einen Neubeginn nur in den USA.

"Jahrelang sind wir im eigenen Land vor ihnen geflohen, sie bedrohten meine ganze Familie mit dem Tod."

Mutter zweier Kinder aus Honduras
In Tijuana unterstützen die SOS-Kinderdörfer in beengten Unterkünften geflüchtete Kinder und Familien. Die SOS-Mitarbeiter betreuen sie psychologisch und helfen ihnen das Erlebte zu verarbeiten. Foto: Alea Horst

Diese Menschen hatten keine Wahl, ihre Flucht war keine Entscheidung für etwas, sondern die einzige Alternative, um zu überleben. Wenn ich an sie und auch an die anderen Flüchtlinge denke, dann sehe ich viele von ihnen vor mir, wie sie beim Erzählen ihrer Geschichte mit den Tränen kämpfen mussten.

Gleichzeitig hege ich eine große Bewunderung für diese Menschen – sie sind nicht klein, unbedeutend und feige, wie ihnen viele das weißmachen wollen. Nein, sie sind mutig, sie beweisen Kraft (alles hinter sich zu lassen) und Würde (sich Ungerechtigkeit und Willkür nicht mehr gefallen zu lassen). Sie haben die Flucht bis nach Mexiko geschafft, manche werden sich in diesem Land eine Zukunft aufbauen, ober aber sie hoffen weiter auf ein glückliches Ende ihrer Odyssee in den USA.

Ich wünsche es allen, die wir getroffen haben, dass der oft gehörte Ausspruch wirklich wird: „Ich will doch nur arbeiten, für mich und meine Familie eine Zukunft aufbauen und einfach nur mit ihnen wieder glücklich sein.“

 

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