Ein Junge mit einer Zeichnung

"Wir unterschätzen, was Kinder alles wahrnehmen"

Die Fotografin und Menschenrechtsaktivistin Alea Horst dokumentiert und unterstützt Projekte der SOS-Kinderdörfer weltweit. Immer wieder zieht es die zweifache Mutter in Krisenregionen und Flüchtlingslagern. Ihr besonderes Augenmerk gilt dabei den Kindern. Mit ihren ausdrucksstarken Bildern von Kindern in Not will die 41-Jährige sie vor dem Vergessenwerden schützen.

Alea Horst als Flüchlingshelferin auf der Insel Lesbos.

Sie hatten auf Ihren Reisen viele Begegnungen mit Kindern, die aus dem Fokus des öffentlichen Interesses geraten sind. Was waren Ihre eindrücklichsten Erlebnisse? 

2019 habe ich mit Sozialarbeitenden der SOS-Kinderdörfer das Flüchtlingslager Kutupalong in Bangladesch besucht. Es ist das größte der Welt, laut Schätzungen leben dort aktuell rund 640.000 Menschen, vor vier Jahren waren es noch viel mehr. Die Geflüchteten gehören der ethnischen Minderheit der Rohingya an. Sie sind ursprünglich in Myanmar beheimatet, aber dort gelten sie als illegal Eingewanderte. 2017 eskalierte die Gewalt gegen sie, deshalb flohen sie ins benachbarte Bangladesch. Bei meinem Besuch 2019 habe ich ein Vorschul-Projekt dokumentiert, das die SOS-Kinderdörfer im Lager realisiert hatten. Unter anderem konnten die geflüchteten Kinder dort malen, was ihnen in den Sinn kommt. Sehr viele Kinder haben Bilder von ihrer Vertreibung gemalt. Bilder, die zeigten, wie aus Hubschraubern auf sie geschossen wurde, Bilder, auf denen Menschen in Baumkronen saßen, während die Bäume angezündet wurden, Bilder mit blutenden Menschen. Mich hat zutiefst schockiert, dass die Gewalt in den Köpfen der Kinder nach zwei Jahren immer noch so präsent ist. Üblicherweise vergessen Kinder Erlebtes viel schneller als wir Erwachsene. Sie blicken nach vorn, nicht zurück. Das waren traurige Momente. Es gibt aber auch glückliche. 

Erzählen Sie! 

Einmal war ich auf Lesbos, da hatten die SOS-Kinderdörfer in dem alten Flüchtlingslager Kara Tepe in Containern Schulräume eingerichtet. Es war so berührend, die Dankbarkeit der Kinder miterleben zu dürfen. Sie waren dankbar, dem Lageralltag für zwei Stunden entfliehen zu können. Kinder, die seit Jahren auf der Flucht und noch nie in der Schule waren – und plötzlich bringt ihnen jemand Mathe und Lesen bei. 

Für die SOS-Kinderdörfer steht der Kinderschutz und die Wahrung der Kinderrechte an oberster Stelle, das gilt auch für Fotos von Kindern. Ihnen gelingt stets eine sehr respektvolle Darstellung der abgebildeten Kinder. Was braucht es dazu? 

Ich versuche mit allen Menschen, die ich fotografiere, in eine würdevolle Begegnung zu gehen. Unabhängig davon, wie desolat die Zustände sind, in denen sie leben.

"Mir ist wichtig, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Das schafft Vertrauen und eine besondere Intensität."

ALEA HORST

Es ist ein Balanceakt: Einerseits sollen meine Fotos signalisieren, wie dringend die Kinder Hilfe brauchen. Darüber hinaus sollen sie den Betrachtenden aber auch die Hoffnung vermitteln, die fast alle diese Kinder in sich tragen, ihre Bereitschaft, etwas ändern zu wollen. 

Wie erleben Sie den Umgang der SOS-Kinderdörfer mit vergessenen Kindern?  

Unsere Haltung ergänzt sich gut: Ich habe es bei allen Projekten so erlebt, dass die Kinder von den Mitarbeitenden der SOS-Kinderdörfer ernstgenommen, dass ihre Rechte gewahrt werden und das ist doch der Punkt: Die Wahrung der Kinderrechte müsste weltweit vielmehr gefördert werden.  

Gemeinsam lernen und spielen. Kinder in einem griechischen Flüchlingslager. Foto: Alea Horst

Was können wir tun, damit die Kinder in den Flüchtlingslagern in Bangladesch und Griechenland, in Ländern wie Afghanistan und in vielen anderen nicht in Vergessenheit geraten?  

Wir müssen aufhören, über sie zu sprechen und sie selbst sprechen lassen! Wir unterschätzen, was diese Kinder alles wahrnehmen. Die wissen sehr genau, dass ihnen großes Unrecht widerfährt, dass sie eigentlich in die Schule gehören. Manchmal lese ich beim Fotografieren in den Augen der Kinder eine leise Anklage, denn ich als Fotografin bin auch die Repräsentantin der Erwachsenen.  

In Ihrem Kinder-Sachbuch ,Manchmal male ich ein Haus für uns‘ haben Sie Kindern in griechischen Flüchtlingslagern eine Stimme gegeben...  

Es könnte eine Brücke sein, weil es unseren Kindern die Situation von geflüchteten Kindern verständlicher macht. In fast jeder Schulklasse gibt es inzwischen ein Kind mit Fluchterfahrung. Diese Kinder können ihre traumatischen Erlebnisse aber weniger teilen. Sie sind es nicht gewohnt, diese Form der Aufmerksamkeit einfordern zu dürfen. 

Wenn wir die vergessenen Kinder zu Wort kommen lassen, wenn wir ihnen Aufmerksamkeit schenken, ohne zu bewerten, sie einfach reden lassen, dann offenbart sich da sehr viel Tiefe. Kürzlich habe ich mit einem achtjährigen Mädchen in Afghanistan über den Krieg in ihrem Land gesprochen. Sie sagte: ,Wenn wir über den Frieden reden, müssen wir über Liebe reden, nicht über Raketen und Waffen, über Liebe.‘ 

 

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