Wir wollen einen Ort kreieren, an dem Träume beginnen

Ein Funke Hoffnung inmitten der Perspektivlosigkeit: Die Psychologin Francesca Cardamone arbeitet als Projektkoordinatorin bei den SOS-Kinderdörfern in Kalabrien, Italien. Im Flüchtlingslager nahe Crotone organisiert sie mit ihrem Team Gruppen-Labs für unbegleitete minderjährige Geflüchtete – mit dem Ziel, deren Wohlbefinden zu fördern, Resilienz zu stärken und eine Retraumatisierung zu verhindern.

Projektkoordinatorin der SOS-Kinderdörfer Francesca Cardamone. Foto: Alea Horst

Seit 2017 sind die SOS-Kinderdörfer in Kalabrien mit einem Programm für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung aktiv, das sich an Migrant:innen und Einheimische richtet, die in prekären Verhältnissen leben. Nach dem Schiffsunglück von Cutro im Februar 2023, bei dem Kinder, Frauen und Männer ihr Leben verloren, führte das Team eine Intervention im Cara Sant'Anna Hub in Crotone durch.

Seit Juni haben psychosoziale Maßnahmen für unbegleitete Minderjährige begonnen, um deren psychisches und soziales Wohlbefinden und ihre Integration zu fördern. Die auf Bewegung basierenden Gruppen-Lab Interventionen haben das Ziel, Lebenskompetenzen wie z. B. Selbstbewusstsein, Beziehungsfähigkeiten und Bewältigungsmechanismen zu festigen, die für ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Stresssituationen und traumatischen Ereignissen essenziell sind.

 

Im Interview berichtet Francesca Cardamone von der Situation im Flüchtlingslager und ihren Erfahrungen:

Warum sind die Gruppen-Labs und psychosozialen Aktivitäten für junge Menschen im Flüchtlingslager so wichtig? 

Die unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten haben eine lange Reise hinter sich, bis sie unsere Küste erreichen. Dabei verlieren sie meistens ein Stück von sich selbst. Sie sind traumatisiert. Selbst die Möglichkeit, ihnen ein Lächeln zu schenken, ist etwas Großes. Denn sie sind nicht in der Lage, zu träumen, weil ihr Leben in der Schwebe ist. Sie wissen nicht, wie das Morgen aussehen wird. Sie haben keine Hoffnung. Solange sie keine Genehmigung haben, hier zu bleiben, können sie sich nicht als Teil der Gemeinschaft fühlen.

"Deshalb ist es so wichtig, dass wir da sind und da bleiben – und sie daran erinnern, dass sie trotz allem Menschen sind."  

FRANCESCA CARDAMONE

Bewegung und Sport bei den Gruppen-Labs sorgen für unbeschwerte Momente. Foto: Alea Horst

Mit welchen Herausforderungen haben unbegleitete minderjährige Geflüchtete zu kämpfen? 

Zum Glück sind junge Menschen sehr resilient. Wir versuchen daher so schnell wie möglich mit ihnen zu arbeiten, wenn sie angekommen sind. Denn dann sinkt das Risiko, dass sie auf Grund ihrer Traumatisierung psychische Probleme entwickeln. Andererseits sind sie noch so jung. Sie haben Krieg erlebt. Sie sind alleine, weit weg von ihrer Familie, ohne Orientierungspunkt. Sie fühlen sich ängstlich und hoffnungslos und brauchen jemanden, dem sie vertrauen können. Aber Vertrauen ist ein Prozess, den man erst aufbauen muss.  

Die jungen Menschen im Flüchtlingslager sind schwer traumatisiert, wir helfen ihnen, ihre Resilienz zu stärken. Foto: Alea Horst

Wo leben Minderjährige, die ohne Familie angekommen sind, und wie werden sie versorgt? 

Im Moment leben die unbegleiteten Minderjährigen, mit denen wir arbeiten, im Flüchtlingslager – in einem Bereich, der eigentlich zur Durchreise und nicht zum Bleiben gedacht ist. Sie leben zu viert in einem kleinen Container. Vor 2020 gab es in Kalabrien noch viele Aufnahmezentren für Minderjährige – sowohl staatliche Einrichtungen als auch Notfallzentren. Während Covid-19 mussten fast alle geschlossen werden. Das ist auch der Grund, warum sie jetzt hier sind, weil es keine Auffanglager für sie gibt. Alle Beteiligten bemühen sich darum, ihren Aufenthalt im Bezirk zu legalisieren. Denn das ist kein Ort, an dem man bleiben sollte, vor allem nicht als junger Mensch. Das, was sie dort haben, gibt ihnen keinen Anreiz zum Träumen. Die Realität dort ist sehr hart.  

Was brauchen die Menschen am dringendsten und wie kann ihnen geholfen werden? 

Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Viele von ihnen haben nicht einmal Turnschuhe. Wenn sie an unseren Aktivitäten teilnehmen, müssen sie barfuß laufen. Denn mit ihren Flip-Flops besteht Gefahr, dass sie hinfallen. Sie brauchen einfach alles. Stellen Sie sich vor, Sie kommen an einen Ort, an dem Sie nicht sein wollen, wo die Menschen um Sie herum eine fremde Sprache sprechen, das Leben ganz anders ist, als Sie es gewohnt sind. Sie müssen wieder von vorne anfangen. Und dann ist da noch der familiäre Druck. Sie kämpfen zwischen zwei Realitäten: Was Sie für sich selbst und Ihre Zukunft wünschen, und was Sie Ihrer Familie zurückgeben müssen. Denn sie haben das Gefühl, dass sie die Erwartungen ihrer Familie erfüllen müssen, weil sie Geld bezahlt haben, um sie hierher zu schicken. 

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man den Menschen helfen kann. Unsere Arbeit dreht sich darum, wie sie ihr Selbst und ihre Lebenskompetenzen aufbauen können, denn das ist etwas, das sie mitnehmen können, auch wenn sie draußen sind. Es ist etwas, dass sie immer gebrauchen können. Es ist wie ein neues Gepäck, das ihnen helfen kann, sich der Welt zu stellen. 

Ziel der psychosozialen Aktivitäten ist es, Verbundenheit zu stärken. Foto: Alea Horst

Inwiefern stehen junge Menschen in Kontakt mit ihrer Familie? 

Jeder sollte die Möglichkeit haben, seine Familie zu kontaktieren, vor allem Minderjährige. Das ist die Theorie. Aber die Realität sieht leider anders aus. Manchmal können sie ihre Familie nicht erreichen, weil sie oder ihre Verwandte kein Internet haben. Manchmal wollen die Geflüchteten nicht mit ihrer Familie sprechen, auch wenn sie sie vermissen. Denn jedes Mal werden sie gefragt, ob sie schon einen Job gefunden hätten. Die Familie denkt, sie leben den europäischen Traum. Sie kommen an, arbeiten und können Geld schicken. Alles ist schön. Die Geflüchteten scheuen sich davor, zu erklären, wie es wirklich ist. Einige haben Glück und können täglich in Kontakt sein, vor allem wenn sie ein eigenes Mobiltelefon haben. Bei anderen vergehen ein bis zwei Wochen. 

Was ist das Ziel der Arbeit der SOS-Kinderdörfer im Flüchtlingslager?   

Mein Traum ist es, eine stabile und konkrete Realität für die jungen Menschen zu schaffen, denn ein Projekt läuft nur über einen Zeitraum. Wir wollen für die jungen Menschen eine Anlaufstelle sein. Wir wollen einen Ort kreieren, an dem Träume beginnen können. Wir wollen ihnen die Hoffnung geben, dass sie es schaffen können. Wir wollen ihnen den Samen geben, der in ihnen wachsen und durch die Zukunft helfen wird. Wir wollen sie erinnern, dass der emotionale Teil in ihnen immer noch da ist, auch wenn sie ihn nicht spüren können.  

"Wir wollen sie jeden Tag daran erinnern, dass das Leben auch schön und leicht sein kann. Und dass man lächeln kann."

FRANCESCA CARDAMONE

Was bewirkt Ihre Arbeit? 

Sie haben es selbst gespürt: Hoffnung. Es ist etwas, was man nicht erklären, sondern nur fühlen kann.

Gemeinsame Aktivitäten schaffen das Gefühl von Zugehörigkeit und Zuversicht. Foto: Alea Horst

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