"Die Spuren des Krieges bleiben"

Die ukrainische Psychologin Anna Vatsak kümmert sich in Rumänien um Kinder und Familien

Der Angriffskrieg in der Ukraine zwang Anna und ihre Familie dazu, ihre Heimat Odesa zu verlassen, und fast 500 Kilometer entfernt neu anzufangen. Heute arbeitet die dreifache Mutter als Psychologin für die SOS-Kinderdörfer im rumänischen Hemeius. Im Interview erzählt die 37-Jährige, wie sie traumatisierte ukrainische Kinder und Eltern unterstützt – und wie sie selbst gelernt hat, mit der Situation umzugehen.

Frau Vatsak, welchen Herausforderungen begegnen Sie in Ihrer täglichen Arbeit? 

Speziell bei Kindern ist der Vertrauensverlust ein großes Thema. Ihr Vertrauen in die Welt, ihr Vertrauen in die Menschen ist erschüttert. Sie haben Angst um das eigene Leben, Angst um das Leben der Angehörigen, Angst vor der Rückkehr in die Heimat. Jedes Kind erlebt das auf seine eigene Art und Weise. Und auch wir Erwachsenen verbieten uns oft zu fühlen. Wir sagen uns, dass wir doch arbeiten, leben, die Kinder großziehen und sie erziehen müssen. Fast niemand bemerkt seine Kindheitstraumata, wenn alles in Ordnung ist. Wenn aber dieses Fundament der Sicherheit, das wir in unserer Heimat hatten, zerbricht, dann kommen all die Ängste, die fest in uns einbetoniert waren, zum Vorschein. 

Anna hat ihr jüngstes Kind fest im Arm. Foto: Katerina Ilievska

Dabei ist Grundvertrauen etwas so Essenzielles. 

Das Grundvertrauen eines Kindes wird schon in den ersten Lebenstagen nach der Geburt geformt. Wenn das Kind weint und die Mutter kommt, es füttert, es wickelt, es umarmt. Durch den Krieg in unserem Land, wo jeden Tag Menschen sterben, wo sich kein Mensch sicher fühlt, ist das Recht zu existieren, beschützt zu werden, das Recht zu sein, einfach nicht mehr verlässlich. Als die Kinder hierherkamen, entstanden Ängste, zum Beispiel, dass Papa nicht mehr aus dem Krieg zurückkommt. 

Macht das Alter der Kinder einen Unterschied bei den Gesprächen, die Sie führen? 

Ja. Wir machen Gruppenarbeiten, aber ich nehme mir auch viel Zeit für Einzelgespräche, denn gerade Jugendliche, die sich bereits von der Außenwelt abgeschottet haben, öffnen sich nicht in einer Gruppe. Hier brauchen wir einen individuellen Ansatz.   

Wie gelingt es Ihnen, dass sich die Kinder und Jugendlichen öffnen? 

Wir beginnen mit einem Gespräch unter vier Augen, um einen Kontakt herzustellen und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Wenn das Kind dann nach und nach das Gefühl hat, dass es teilen kann, was es beschäftigt, dann teilt es. Wenn ich als Spezialistin von den Kindern und Jugendlichen akzeptiert werde, fangen sie an, mit mir zu reden, und dann können wir uns weiter vorarbeiten.  

 

Auf welche Methodik greifen Sie in Ihrer Arbeit zurück? 

Ich beschäftige mich besonders mit der positiven Psychotherapie, die ich studiert habe. Das bedeutet, dass in meinen Sitzungen zum Beispiel metaphorische Karten zum Einsatz kommen, aber auch verschiedene psychologische Übungen, um Vertrauen aufzubauen, und Techniken aus der Wissenschaft der Psychologie.  

Leider sind psychische Erkrankungen noch oft mit einem Stigma behaftet. Wie gehen Sie damit um? 

Es ist ein langsamer Prozess. Erst einmal geht es darum, dass das Kind einen Zugang zu seinen Gefühlen findet. Denn im Leben denken wir viel, und fühlen zu wenig, wir hören nicht genug auf die Gefühle unseres Körpers. 

Wie äußert sich das? 

Es kommt vor, dass Kinder kommen und erzählen, dass sie ständig weinen und nicht verstehen, warum das so ist. Warum sie weinen, ist irgendwo im Unterbewusstsein versteckt. Genau diese Frage muss an die Oberfläche geholt werden, damit die Person sie herausschreien kann und versteht, warum sie weint. Es geht darum, den Grund zu finden, der die Ursache ist und der die Reaktion – das Weinen – hervorruft. Wir versuchen, gemeinsam herauszufinden, wo dieses Gefühl im Körper sitzt, indem ich Fragen stelle. 

Welche? 

Ich frage immer: Wie geht es dir? Wie fühlst du dich? Was fühlt dein Körper? Wie kannst du dich entspannen? Was zaubert ein Lächeln auf dein Gesicht? Wovon träumst du? Wir mischen diese Fragen mit den professionellen Fragen, damit sich das Kind wohl und sicher fühlt. Denn ein Mensch kann nur dann effizient an sich arbeiten, wenn er sich sicher und geborgen fühlt. Das liegt in unserer Natur. 

"Der Krieg zerstört nicht nur Gebäude, Orte und Städte, nicht nur Hoffnungen und Träume, sondern er zerstört auch Ehen und Familien." 


Anna, Psychologin

Was kommt bei diesen Fragen zum Vorschein? 

Ich bringe den Kindern beispielsweise bei, was ein Konflikt ist. Wie man damit umgeht. Ich erkläre den Kindern, warum die Schwester oder der Bruder nicht mit ihnen spielen will. Dass sie ihre Grenzen haben und manchmal ihre Ruhe haben wollen. Ich bringe ihnen bei, sich gegenseitig zu respektieren und zu verstehen. Zu verstehen, welche Prozesse in ihnen ablaufen. Dass der eine aktiv sein will, und die andere mehr Ruhe braucht. Zuhause, in der Ukraine, war das leicht umzusetzen. Da hatte jede:r sein eigenes Zimmer. In der Ukraine konnten die Eltern ihnen alles geben, jetzt aber können sie solche Bedingungen nicht herstellen. Wir schauen also, dass jede:r seine Bedürfnisse noch besser zu artikulieren lernt als vorher, und das gilt nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Eltern. Denn der Krieg zerstört nicht nur Gebäude, Orte und Städte, nicht nur Hoffnungen und Träume, sondern er zerstört auch Ehen und Familien. 

Alle Beteiligten befinden sich in einer absoluten Ausnahmesituation. 

Ein geregelter Tagesablauf ist für Kinder extrem wichtig. Das Kind wacht morgens auf, es wird in den Kindergarten gebracht, hat dort einen klaren Ablauf und weiß auch nach dem Kindergarten, was passiert. Die Eltern strahlen eine Ruhe aus, weil auch sie wissen, was der jeweils nächste Schritt am Tag ist. Wenn diese Strukturen weg sind, verliert das Kind seine Orientierung und damit auch seine Sicherheit. Es weiß nicht, wann es schlafen gehen soll, wann es Zeit zum Essen ist. Alles ist zerrüttet, und auch die Mutter ist in einem ungewohnten Zustand. Sie weiß nicht, woher sie noch die Ressourcen nehmen soll, um zuerst sich selbst aufzuraffen und dann für ihre Kinder da zu sein.

Annas Ehemann und die Kinder sind ihr großer Anker. Foto: Katerina Ilievska

Eine unsichere Mutter oder ein unsicherer Vater führen zu einem verunsicherten Kind. 

Wenn der Boden unter den Füßen rissig ist, müssen zuerst die Eltern für sich selbst Halt finden, um ihren Kindern Halt geben zu können. Oft sind in der aktuellen Situation schon die grundlegendsten Bedürfnisse nicht gestillt. Viele schlafen schlecht, viele hören auf zu essen, weil sie unter permanentem Stress stehen – und viele tun sich auch schwer, in die Zukunft zu blicken. Gewissermaßen beginnen sie innerlich zu zerfallen und wir arbeiten daran –  wenn wir bei dem Bild bleiben –, dieses Gebäude in uns selbst wieder zu errichten. Denn nur wenn ein Mensch innerlich aus dem Vollen schöpfen kann ist, kann er auch für andere da sein. 

Äußern sich diese psychischen Probleme auch körperlich? 

Gerade kleine Kinder leiden vor allem an Bronchitis oder Laryngitis (Entzündung der Kehlkopfschleimhaut, d. Red.), also an Krankheiten, die mit dem Rachen zu tun haben. Das hängt mit der Sprache der Mutter zusammen, oder besser gesagt mit dem, was die Mutter zum Schweigen bringt. Die Mutter versucht, den Kindern zu zeigen, dass alles in Ordnung ist, aber das Kind spürt, dass die Mutter sich schlecht fühlt. Schließlich hört es die Mutter jede Nacht im Bad weinen und es sagt sich: "Mama sagt, dass alles in Ordnung ist, aber Mama weint." Also fangen sie an, Weinen mit etwas Gutem zu assoziieren, und sind verwirrt.  

Wenn sich das so tief einprägt, kann denn so eine traumatische Erfahrung überhaupt überwunden werden? 

Die Spuren des Krieges bleiben. Jeder Mensch hinterlässt eine Spur im Leben. Sie kann mit nichts gelöscht werden. Aber wir können ständig weiter an uns arbeiten, uns selbst beobachten und uns den Wunsch nach Veränderung immer wieder bewusstmachen.  

Inwiefern? 

Wir Erwachsenen müssen da mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn wir den Wunsch haben, unser Land, die Ukraine, zu verändern, dann werden auch unsere Kinder den Wunsch haben, sich selbst und die Ukraine zu verändern. Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Ukraine nicht nur traumatisierte Menschen hat, sondern dass diejenigen, die traumatisiert sind, über sich hinauswachsen und trotz dieser Traumata ein besseres Leben führen. Das Leben geht weiter und wir sind jetzt an einem Punkt, an dem wir lernen müssen, mit den Umständen zu leben. Die Frage ist, wie man Kraft sammelt und weitermacht. 

Und wie sammelt man Kraft und macht weiter?  

Viele Menschen, denen ich die metaphorischen Karten gebe, bitte ich, mir auf den Karten zu zeigen, wie sie sich selbst in der Zukunft sehen. Wenn sie 180 Karten durchgegangen sind, sagen die meisten, dass sie sich hier nicht wiederfinden. Das ist ein Zeichen dafür, dass sie ihre Zukunft immer noch nicht sehen, weil die Angst stärker ist als der Blick in die Zukunft. Ich habe drei Kinder, in denen ich die Zukunft der Ukraine sehe. Einen Teenager, 14 Jahre alt sowie einen 10-jährigen und einen dreijährigen Sohn. Die Kinder kommen auf diese Welt, um uns Erwachsenen zu zeigen, dass es Glück und bedingungslose Liebe gibt. Meine Familie ist meine Ressource. Dank ihr kann ich regenerieren. Mein Mann und ich unterstützen uns gegenseitig. Wir versuchen, einander zuzuhören und unsere persönlichen Grenzen zu respektieren. 

"Weinen ist der ökologischste Weg, um aufgestaute Emotionen abzubauen."

ANNA, PSYCHOLOGIN

Wie schaffen Sie es darüber hinaus, von den emotionalen Gesprächen Abstand zu gewinnen? 

Musik hilft. Musik ohne Worte hilft mir. Ich will keine Worte hören, nur Musik. Vielleicht, weil ich bei der Arbeit so viele Geschichten höre. Außerdem koche ich und backe, das stimuliert meine Motorik. Ich mag das. Ich frage meinen Körper, was mir helfen kann, und wie jede:r andere auch, weine ich. Weinen ist der ökologischste Weg, um aufgestaute Emotionen abzubauen. 

 

Hilfe für Kinder aus der Ukraine

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