Mutaz arbeitet als Psychologe für die SOS-Kinderdörfer in Gaza. Gemeinsam mit 68 Kindern und weiteren Mitarbeitenden ist er im März aus Rafah evakuiert worden. Im SOS-Kinderdorf in Bethlehem, Westjordanland, sind sie nun in Sicherheit. Im Interview berichtet er, wie die SOS-Kinderdörfer die Kinder psychologisch betreuen und ihnen helfen, ihre Traumata zu bewältigen.*
Wie geht es den evakuierten Kindern aus Rafah aktuell? Wie haben sie sich in den letzten Wochen eingelebt?
Dass die Kinder nach Bethlehem kamen und begannen, sich sicher zu fühlen, war äußerst positiv. Zunächst war alles neu – der Ort und die Menschen –, und wir konnten kaum glauben, dass wir umgezogen waren.
“Die Kinder fragten uns immer wieder: ‘Sind wir jetzt in Bethlehem?’ Meine Antwort lautete stets: ‘Ja, wir sind jetzt hier in Bethlehem!’”
Die Begrüßung unter den Kindern war herzlich. Sie spielten gemeinsam Fußball, unterhielten sich und sangen zusammen. Auch zwischen den Betreuer:innen – sowohl den SOS-Kinderdorf-Müttern aus dem Gazastreifen als auch denen aus Bethlehem – herrscht große Liebe und Zusammenarbeit. Man spürt, wie die von uns durchgeführten Aktivitäten einen positiven Einfluss haben: Wir bauen eine Gemeinschaft auf und knüpfen soziale Bindungen, was den Kindern hilft, Beziehungen aufzubauen.
Wie sieht das psychologische Betreuungsprogramm vor Ort aus?
Wir arbeiten mit zwei Ansätzen, um Kinder zu unterstützen: Es gibt akute Interventionen, bei denen wir psychologische Erste Hilfe leisten. Darüber hinaus setzen wir ein umfassendes psychologisches Unterstützungsprogramm für die Kinder um. Dazu gehören Einzel-, Gruppen- und gemeinsame Sitzungen zwischen Kindern, Müttern und Betreuer:innen.
Zusätzlich organisieren wir Tage der offenen Tür, an denen verschiedene Aktivitäten angeboten werden, wie Auftritte von Clowns, Wettbewerbe und Unterhaltungsshows. Dabei können die Kinder an Gesangs- und Musikaktivitäten teilnehmen. Wir verwenden Kunst als primäres Mittel zur Bewältigung psychologischer Probleme bei Kindern, wie zum Beispiel Zeichnen und die Arbeit mit Ton.
Die Kinder bringen künstlerisch zum Ausdruck, was in ihnen vorgeht. Foto: Jakob Fuhr
Warum ist die Kunsttherapie so wichtig?
Wir glauben, dass nicht alle Kinder in der Lage sind, mit Worten auszudrücken, was ihnen am Herzen liegt. Sie nutzen künstlerische Werke als Ausdruck ihrer Probleme. Wir analysieren diese und bieten darauf basierend individuelle psychologische Behandlung an.
Durch das Zeichnen helfen wir den Kindern auch, soziale Kooperation zu erlernen. Zum Beispiel tragen in den Workshops mehrere Kinder gemeinsam zu einer Zeichnung bei oder jedes Kind stellt das eigene Bild der Gruppe vor. Dies ist sehr wichtig, da die Kinder so lernen, ihre Gefühle positiv und frei vor anderen zu äußern.
Workshops mit den Kindern helfen, das Erlebte zu verarbeiten und das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Foto: Jakob Fuhr
Was ist das Ziel der SOS-Kinderdörfer bei der Betreuung der Kinder?
Unser Hauptziel, an dem wir sowohl kurz- als auch langfristig arbeiten, ist es, dass die Kinder psychisch gesund und dadurch in der Lage sind, normal und problemlos mit anderen Kindern zusammen zu leben. Langfristig möchten wir erreichen, dass die Kinder den Druck des Alltags ebenso gut bewältigen können wie ihre Altersgenossen. Das ist unser langfristiges Bestreben.
Was motiviert dich bei deiner alltäglichen Arbeit?
Auf persönlicher Ebene gibt es viele Dinge, die mich motivieren. Ich habe lange Zeit mit den Kindern zusammengelebt. Jeden Tag, wenn ich aufwache, sehe ich sie und spüre, dass sie jemanden brauchen, der an ihrer Seite steht und sie unterstützt.
“Ich habe das Gefühl, dass wir noch mehr tun müssen, damit die Kinder in Frieden, Liebe und Sicherheit leben – ohne psychologische Probleme.”
Beim gemeinsamen Spielen schließen die Kinder neue Freundschaften. Foto: Jakob Fuhr
Gibt es Geschichten von Kindern, die Sie besonders bewegt haben?
Gestern im SOS-Kinderdorf erlebte ich eine berührende Situation. Zwei Kinder aus Rafah riefen freudig meinen Namen "Onkel Mutaz". Ich erwartete, dass sie ein Problem hatten, das sie lösen wollten, aber stattdessen erzählten sie mir begeistert von ihrem Fußballspiel mit anderen Kindern in Bethlehem und wie viele neue Namen sie jetzt kannten. Diese Momente erfüllten mich mit Glück und bestätigen, dass meine Bemühungen Früchte tragen. Ein weiteres Mädchen, das zuvor ängstlich und zurückgezogen war, kam zu mir und berichtete von ihren zwei neuen Freunden in Bethlehem. Dies war ein großer Erfolg auf menschlicher und psychologischer Ebene.
Wie geht es weiter?
Einige Kinder benötigen noch immer Unterstützung und weitere psychologische Betreuung. Doch das Entscheidende ist, wie gut der Transferprozess verlief – und wie schlimm es für die Kinder gewesen wäre, wenn sie in Rafah geblieben wären.
“Wir möchten uns bei allen bedanken, die dazu beigetragen haben, die Kinder an einen sicheren Ort zu bringen.”
* Das Interview wurde sechs Wochen nach der Evakuierung geführt.