Norelis und ihre Tochter Valentina* haben lange unter häuslicher Gewalt gelitten. In einem Flüchtlingslager im Norden Kolumbiens haben die SOS-Kinderdörfer ihnen geholfen Traumata zu heilen, an sich selbst zu glauben und große Pläne zu schmieden.
"Immer wenn ich meine Mama brauchte, war sie für mich da. Als sie einmal mich brauchte, war ich für sie da." Die 14-jährige Valentina und ihre nur 17 Jahre ältere Mutter Norelis haben Tränen in den Augen, als sie über die Nacht sprechen, in der Valentina ihre Mutter vor ihrem prügelnden Mann beschütze. In einem Flüchtlingslager in Kolumbien unterstützen die SOS-Kinderdörfer das mutige Mädchen und die tapfere Mutter dabei, eine starke Familie zu werden.
Norelis war erst 13 Jahre alt, als sie im Norden Venezuelas von ihrer Familie an einen deutlich älteren Mann verheiratet wurde. Norelis gehört der Volksgruppe der Wayúu an, die noch heute Kinder oft gegen ihren Willen verheiraten. Drei Jahre nach der Zwangsheirat war Norelis schwanger. "Über Sex durfte bei uns nicht gesprochen werden. Ich wusste damals nichts über Verhütung. Und hätte ich meine Mutter danach gefragt, hätte sie mich geschlagen", berichtet Norelis. Geschlagen wurde sie auch von ihrem Mann, dennoch wurde sie vier weitere Male schwanger von ihm. "Man hatte mir eingeimpft, dass ich als gute Wayúu-Frau bei meinem Mann bleiben müsse – egal, was er mir antut. Das habe ich zu lange geglaubt", erzählt Norelis.
Der Mann verlässt die fünffache Mutter
Kurz bevor sie ihr fünftes Kind zur Welt brachte, verließ ihr Mann sie schließlich. "Auch wenn er mich die ganze Zeit schlimm behandelt hat, habe ich mich wahnsinnig geschämt, als er mich verlassen hat. Hätte meine Mutter mich nicht davon abgehalten, hätte ich mich damals umgebracht", erinnert Norelis sich an ihre Verzweiflung.
Sie hat sich kaum vom Schock des Verlassenwerdens erholt, als ihr Sohn Matteo 15 Tage nach seiner Geburt lila anläuft. Die Ärzte im Krankenhaus im venezolanischen Maracaibo sagen seiner Mutter, dass es ihnen nach Jahren der Wirtschaftskrise an Geräten, Medikamenten und Personal fehle, um das herzkranke Baby zu behandeln und dass Matteo* sterben würde, wenn er nicht sofort in einem besser ausgestatteten Krankenhaus in Kolumbien behandelt werden würde. Noch in der Nacht reist Norelis mit ihrem mit dem Tod ringenden Baby nach Riohacha im Norden Kolumbiens. Nach drei Tagen auf der Intensivstation und zwölf weiteren Tagen im Krankenhaus ist Matteo so weit stabilisiert, dass seine Mutter mit ihm das Krankenhaus verlassen kann. Doch weil eine weitere, in Venezuela nicht mögliche medizinische Betreuung nötig ist, beschließt Norelis mit Matteo und ihren weiteren vier Kindern in Kolumbien zu bleiben. Weil sie ihr letztes Geld für den Bus zum Krankenhaus ausgegeben hat, bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich mit ihren Kindern in La Pista niederzulassen.
Norelis und ihre Kinder leben in La Pista: Am Rande eines stillgelegten Flughafens ist das größte Flüchtlingslager Kolumbiens entstanden. Foto: Philipp Hedemann
Kindheit im größten Flüchtlingslager Kolumbiens
Seit Beginn der Staats- und Wirtschaftskrise in Venezuela ist nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt rechts und links der Startbahn (auf Spanisch La Pista) eines stillgelegten Flughafens das größte Flüchtlingslager in Kolumbien gewachsen. Tausende – niemand weiß genau, wie viele Menschen in La Pista leben – hausen dort in aus Wellblech, Holz und Plastikplanen zusammengezimmerten Hütten. In La Pista gibt es kein fließend Wasser, oft fällt der Strom aus, es gibt kaum Bäume, die in der Hitze Schatten spenden, bei Regen stehen die Hütten oft unter Wasser, Malaria, Dengue und Durchfallerkrankungen schwächen viele der mangel- und unterernährten Kinder, kriminelle Banden handeln im Lager mit Kokain und anderen Drogen, manchmal hört man nachts Schüsse, immer wieder kommt es zu häuslicher Gewalt. La Pista ist kein guter Ort, um Kinder großzuziehen. Norelis hat keine andere Wahl.
In dem trostlosen Flüchtlingslager lernt sie schließlich ihren zweiten Mann, den Vater ihres jüngsten Kindes Sebastian, kennen. "Zuerst war er nett. Aber bald hat auch er angefangen, Mama und uns zu schlagen. Am schlimmsten war es, wenn er getrunken hatte", berichtet Valentina. Als ihr Stiefvater nachts wieder einmal betrunken auf ihre Mutter und ihre jüngeren Geschwister losgeht, hält Valentina es nicht mehr aus, ruft mit Hilfe von Nachbarn die Polizei. Die Beamten nehmen den prügelnden Vater und Ehemann mit und erteilen ein Kontaktverbot.
Neustart mit Unterstützung der SOS-Kinderdörfer
Auch wenn Norelis seitdem als alleinerziehende Mutter von sechs Kinder ganz auf sich allein gestellt ist, ist das Lächeln auf ihr zuvor oft von Schrammen und blauen Flecken gezeichnetes Gesicht zurückgekehrt. Das liegt nicht nur an ihrer mutigen großen Tochter, sondern auch an der Unterstützung der SOS-Kinderdörfer.
Direkt neben der stillgelegten Landebahn hat Norelis einen kleinen Laden eröffnet, in dem sie unter anderem Getränke, Lebensmittel und Seife verkauft. Foto: Philipp Hedemann
Von der Kinderschutzorganisation erhielt sie Hygiene-Artikel, Essen und eine große Tonne für Trinkwasser. Die Sozialarbeiterinnen der SOS-Kinderdörfer halfen ihr, die notwendigen Dokumente zu bekommen, um ihre Kinder in kolumbianische Schulen schicken zu können.
In Eltern-Workshops in La Pista lernte die Frau, die in einem Klima der Angst mit Schlägen und harten Strafen erzogen wurde, ihre Kinder auch unter schwierigsten Bedingungen mit Liebe zu selbstbewussten und glücklichen Kindern zu erziehen. Und von den SOS-Kinderdörfern angebotene psychotherapeutische Einzel- und Gruppengespräche halfen ihr, besser mit erlittenen Traumata klarzukommen.
"Nachdem, was ich erlebt habe, glaube ich nicht mehr an die große Liebe. Ich glaube jetzt an mich. Und die Liebe, die ich brauche, bekomme ich von meinen Kindern", sagt Norelis während sie Matteo, dessen krankes Herz sie vor fünf Jahren nach Kolumbien gebracht hat, zärtlich über das Haar streichelt. Ausgestattet mit einem neuen Glauben an sich selbst und dem Bewusstsein, gestärkt aus Krisen hervorgehen zu können, eröffnete Norelis direkt neben der Landebahn einen kleinen Laden, in dem sie unter anderem Getränke, Lebensmittel und Seife verkauft. Die bescheidenen Einnahmen erlauben ihr es jetzt, ihren Kindern nicht immer nur Reis und Kochbananen, sondern immer öfter auch Obst, Gemüse, Eier und Fleisch zu kochen. "Ich bin so stolz auf meine Mutter. Sie kümmert sich alleine um mich und meine fünf Geschwister und hat es nebenbei noch geschafft, sich ihren eigenen Laden aufzubauen", sagt Valentina während sie ihrer Mutter hilft, in ihrem winzigen Geschäft die Regale einzuräumen.
Valentinas große Pläne
Valentina und ihre Geschwister gehen mittlerweile zwei Mal pro Woche in eine buntgestrichene und liebevoll geschmückte Versammlungshalle der SOS-Kinderdörfer. Dort holen sie in der Schule verpassten Stoff nach, spielen, singen, tanzen, malen und basteln und erhalten nahrhafte Mahlzeiten. "Auch wenn meine Kinder in La Pista aufwachsen müssen, haben sie dort die Gelegenheit, einfach mal Kind zu sein", sagt Norelis.
Die alleineerziehende Mutter ist dankbar, dass ihre sechs Kinder in den SOS-Kinderdörfer-Workshops nicht nur für ein paar Stunden ihre Sorgen vergessen können, sondern auch lernen, welche Rechte sie als Kinder haben.
Als Norelis ihre Tochter Sofia* nach einem dieser Treffen wusch, sagte die Sechsjährige zu ihr: "Mama, das ist meine Vulva. Da darf nur ich mich berühren." Norelis war zunächst überrascht, aber dann sehr glücklich, dass ihre Tochter gelernt hat, dass nur sie über ihren Körper bestimmen darf. "Ich habe das leider erst als erwachsene Frau in einem Workshop der SOS-Kinderdörfer gelernt", so die stolze Mutter.
Ihre älteste Tochter Valentina ließ sich von den SOS-Kinderdörfern sogar zur Jugendleiterin ausbilden, bringt anderen Jugendlichen in La Pista jetzt unter anderem bei, wie sie sich vor ungewollten Schwangerschaften und sexuell übertragbaren Krankheiten schützen können, klärt sie über ihre Kinderrechte auf und ermutigt sie, trotz der katastrophalen Lebensbedingungen in La Pista nicht aufzugeben und Pläne für die Zukunft zu schmieden. Valentina weiß bereits genau, was sie schaffen möchte: "Ich möchte Polizistin oder Anwältin werden. Ich will dafür kämpfen, dass Frauen nicht das Gleiche erleben müssen wie meine Mama."
*Namen der Kinder geändert