Kolumbien: Jenny und ihre Familie

"Ich gebe nicht auf. Ich bin eine Kämpferin!"

Jenny verlor drei ihrer sieben Kinder. Die Kuchenrezepte ihrer Großmutter, die Gespräche mit ihren verstorbenen Söhnen und ihrer Tochter und die Unterstützung der SOS-Kinderdörfer geben ihr die Kraft, sich dennoch für ein Ende der Gewalt in Kolumbien einzusetzen.

"Nur wenn ich backe, kann ich meinen Kummer und meine Sorgen für eine Zeit vergessen", sagt Jenny, als sie die Zutaten für ihren Lieblingskuchen nach einem alten Rezept ihrer verstorbenen Großmutter verrührt. Ihre Kunden in Milagro de Dios, einem Armenviertel am Rand der Stadt Riohacha im Norden Kolumbiens, sagen, dass sie die besten Kuchen backe, man schmecke einfach, dass sie mit Liebe gemacht seien. Viele ihrer Abnehmer:innen wissen nicht, dass die aus Venezuela geflohene Frau auf Grund von Armut und Gewalt drei ihrer sieben Kinder verloren hat. Nun setzt sie sich mit Kuchen und Liebe für ein Ende von Gewalt und Armut ein. 

Flucht aus Venezuela

"Meine Tochter Anyelith war erst ein Jahr alt, als sie starb. Die Ärzte in Venezuela sagten, dass sie Leukämie hatte und dass sie nicht die richtigen Medikamente hätten, um ihr Leben zu retten", berichtet Jenny beim Backen mit Tränen in den Augen. Die Trauer um ihre Tochter und die Angst um ihre weiteren Kinder ließ sie vor acht Jahren die Flucht ergreifen. Sie konnte es nicht mehr ertragen, in dem Land zu leben, das von Präsident Nicolás Maduro so runtergewirtschaftet wurde, dass dort Kinder und Babys sterben, weil viele Ärzt:innen bereits geflohen waren und lebenserhaltende Medikamente nicht mehr erhältlich sind. Zudem wurde es für die Bäckerin immer schwieriger, in den leeren Supermarktregalen Zutaten für ihre Kuchen zu finden. Und selbst wenn sie genug Mehl, Eier, Zucker und Butter zum Backen fand, konnten sich immer weniger Kunden ihre Spezialitäten leisten. Also beschloss sie, alles, was sich irgendwie zu Geld machen ließ, zu verkaufen und mit ihrer Familie ins Nachbarland Kolumbien zu fliehen. 

Doch dem Fluch, der auf ihrer Familie zu liegen schien, konnte sie nicht entfliehen. Drei Jahre nachdem sie sich mit ihrer Familie im hauptsächlich von venezolanischen Flüchtlingen bewohnten Milagro de Dios niederließ, bekam ihr damals sieben Jahre alter Sohn José Santiago plötzlich hohes Fieber. Im Krankenhaus diagnostizierten die Ärzte eine komplizierte Lungenkrankheit, sagten der verzweifelten Mutter, dass nur noch in einem spezialisierten Krankenhaus etwas für das schwerkranke Kind getan werden könne. "Aber weil wir damals noch nicht offiziell als Flüchtlinge registriert waren, waren wir nicht krankenversichert. Und aus eigener Tasche konnten wir die teure Behandlung nicht bezahlen. Innerhalb von einer Woche war José Santiago tot", erzählt Jenny mit immer wieder versagender Stimme.

Jenny liebt es mit ihren Kindern Kuchen zu backen. Foto: Jakob Fuhr

Hoffnung durch Unterstützung

Nach José Santiagos Tod lernte Jenny Sozialarbeiterinnen der SOS-Kinderdörfer kennen. Sie unterstützten die durch den Tod von zwei Kindern traumatisierte Mutter, ihren Mann und ihre drei Söhne mit psychotherapeutischen Angeboten. "Die SOS-Kinderdörfer haben uns damals sehr geholfen. Aber die Hilfe hat auch geschmerzt. Mir wurde klar, dass José Santiago wahrscheinlich noch leben könnte, wenn ich SOS früher kennengelernt hätte", berichtet Jenny im Schatten eines Baumes im Hof hinter ihrem kleinen Häuschen. Denn die Kinderhilfsorganisation unterstützte ihre Familie dabei, sich offiziell als Flüchtlinge zu registrieren, sodass Jennys Kinder jetzt zur Schule gehen können und krankenversichert sind. 

Doch einen weiteren Todesfall in der Familie konnten auch die fürsorglichen Mitarbeiterinnen der SOS-Kinderdörfer nicht verhindern. Vor acht Monaten klingelte Jennys Telefon. "Luis ist erschossen worden", sagte ein Freund von Jennys ältestem Sohn Luis. Mehr zu dem Mord konnte oder wollte der Anrufer nicht sagen. 

Weil er im von Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit geprägten Milagro de Dios keine Zukunft für sich sah, zog Luis mit 23 Jahren in die 1000 Kilometer südlich gelegene Hauptstadt Bogotá, schlug sich dort mit dem Verkauf von Handyladekabeln und Snacks durch. Das hatte er zumindest seiner Mutter erzählt, die den vagen Worten ihres Sohnes gerne Glauben schenkte.  

Als sie Luis mit zwei Einschusslöchern im Rücken in einem Leichenschauhaus in Bogotá das erste Mal nach Monaten wiedersah, kamen ihr Zweifel an dem, was ihr Sohn ihr erzählt hatte. Jenny weiß, dass das brutale kolumbianische Drogengeschäft für viele junge Männer die vermeintlich einzige Chance ist, zu (schnellem) Geld zu kommen.  

"Vor allem Migranten aus Venezuela, die hier auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert werden, sind gefährdet, in die Kriminalität abzurutschen", weiß die aus Venezuela geflohene Mutter. Wenn sie über die Drogenkriminalität spricht, nimmt sie den Namen ihres geliebten Sohnes bewusst nicht in den Mund, und doch scheint Luis gegenwärtig, wenn sie über die Skrupellosigkeit der Drogenbanden spricht.  

Den Mord an ihrem geliebten Sohn hat die Polizei nie aufgeklärt, für die Überführung seines Leichnams und die Bestattung hat Jenny sich bei Verwandten und Bekannten schwer verschuldet. Den blutgetränkten gelben Rucksack und die schwarze Schirmmütze, die Luis trug, als er von hinten erschossen wurde, hat sie zum Gedenken an ihren Sohn so aufgehängt, dass sie sie sieht, wenn sie Kuchen backt.

Jenny träumt davon, eine eigene Bäckerei zu eröffnen. Foto: Jakob Fuhr

Engagement für die Zukunft

"Die Regierung muss endlich Jobs schaffen, damit frustrierte junge Männer nicht in die Kriminalität abrutschen", fordert Jenny. Sie will nicht, dass noch mehr Mütter Altäre für ihre getöteten Söhne errichten müssen. Doch die siebenfache Mutter, die nur noch beruhigt ist, wenn sie ihre vier noch lebenden Kinder um sich hat, stellt nicht nur Forderungen an die Politik – sie nimmt auch Mütter und Väter in Kolumbien in die Verantwortung. 

"Wir müssen unsere Kinder dazu erziehen, konsequent auf Gewalt zu verzichten. Auch in Partnerschaften darf es keine Schläge mehr geben. Nur so kann der Teufelskreis der Gewalt durchbrochen werden", ist die Venezolanerin überzeugt. Um anderen ihre Überzeugungen besser näherbringen zu können, ließ die 47-Jährige, die von ihrem ersten Mann oft misshandelt wurde, sich von den SOS-Kinderdörfern zur Community Leaderin ausbilden. Jetzt bringt sie anderen Müttern bei, ihre Kinder gesund zu ernähren und ihre Bildung zu fördern, aber vor allem ermutigt sie andere Frauen, sich gegen häusliche Gewalt zur Wehr zu setzen und ihre Töchter und Söhne liebevoll und gewaltlos zu erziehen. Jennys eigene Kinder Samuel, Gabriel, Alejandro und Anyelith, die sie nach ihrer ersten verstorbenen Tochter benannt hat, besuchen regelmäßig Workshops der SOS-Kinderdörfer, in denen sie unter anderem viel über ihr Recht auf eine gewaltfreie Erziehung lernen.  

Zur Ruhe kommt Jenny nur, wenn sie ihre vier noch lebenden Kinder um sich hat. Foto: Jakob Fuhr

Für ein Ende der Gewalt engagiert sie sich ehrenamtlich. Geld verdient Jenny, die davon träumt, eines Tages eine richtige Bäckerei zu haben, mit dem Verkauf der Kuchen, die sie in ihrer stickigen Küche backt. "Wenn ich backe, spreche ich oft mit meinen gestorbenen Kindern. Anyelith, José Santiago und Luis sind meine Engel. Sie geben mir die Kraft, die ich brauche, um mich um meine vier lebenden Kinder und die Gemeinschaft in Milagro de Dios zu kümmern. Ich gebe nicht auf. Ich bin eine Kämpferin." 

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