Als Neunjähriger floh Juan* vor seinem prügelnden Stiefvater aus Venezuela nach Kolumbien, schlug sich auf einer Odyssee durch Südamerika mit Arbeit auf Baustellen jahrelang alleine durch. In einer liebevollen Pflegefamilie der SOS-Kinderdörfer holt er jetzt seine verpasste Kindheit nach und macht große Pläne.
Jedes Mal, wenn Juan Claudia auf den Fuß tritt, müssen er und seine Pflegemutter laut auflachen. Auch wenn Juans Schritte beim Cumbia noch nicht immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort landen, liebt er es, mit Claudia zu tanzen. Die Frau, die ihn mit der Unterstützung der SOS-Kinderdörfer als Sohn in ihre Familie aufnahm, schenkt dem aus Venezuela geflohenen Jungen die Aufmerksamkeit und Liebe, die er so lange vermisst hat. Sie zeigt ihm nicht nur wie man tanzt, sondern hilft ihm auch, seine verpasste Kindheit nachzuholen.
Juans Kindheit endete als er acht Jahre alt war im von Präsident Maduro heruntergewirtschafteten Venezuela. Damals verließ Juans Vater seine Mutter, seine Geschwister und ihn, um im Ausland Arbeit zu finden. Seitdem hat Juan nichts mehr von seinem Vater gehört. Seine Mutter trauerte dem Mann, der seine Familie im Stich gelassen hatte, nicht lange nach, fand bald einen neuen Partner – und der machte Juan das Leben zur Hölle: Er ließ ihn hungern, schlug immer wieder auf seinen Stiefsohn ein.
Nachdem er ihn mit einem Stock verprügelt hatte, beschloss Juan: Jetzt reicht's! Als Neunjähriger rannte er von Zuhause weg, schlug sich als blinder Passagier auf Lastwagen und zu Fuß bis in die kolumbianische Hauptstadt Bogotá durch, schuftete dort für umgerechnet wenige Euro pro Tag illegal auf Baustellen.
Juan hat bei Claudia und Ever eine liebevolle Familie gefunden. Die Pflegeeltern der SOS-Kinderdörfer lieben ihn wie ihre eigenen Kinder. Foto: Jakob Fuhr
Auch wenn ihm von der harten Arbeit oft die kleinen Hände bluteten und der schmale Rücken schmerzte, war Juan mit seinem neuen Leben nicht unzufrieden: "Niemand hat mich geschlagen, und ich war stolz darauf, dass ich ganz alleine für mich sorgen konnte", erzählt er in seinem neuen Zuhause in Túquerres im kolumbianischen Hochland auf über 3100 Meter Höhe.
Erst als ein Mann sich an Juan vergehen wollte und er sich mit einem Stein zur Wehr setzte, verließ er Bogotá fluchtartig. Seine Odyssee führte ihn über zahlreiche ausbeuterische Baustellen und Autowaschanlagen quer durch Kolumbien, Ecuador, Peru, Chile und zurück nach Kolumbien, wo er schließlich von Mitarbeitenden der Familien-Behörde aufgegriffen wurde. Vier Jahre nachdem er vor seinem prügelnden Stiefvater geflohen war, kam er so nur wenige Kilometer von der ecuadorianischen Grenze entfernt ins SOS-Kinderdorf Ipiales. Schnell gelang es den SOS-Kinderdörfern, eine Pflegefamilie für Juan ausfindig zu machen.
Juan nutzt seine zweite Chance
"Als Juan zu uns kam, hatte er das Gesicht eines traurigen Erwachsenen. Man sah ihm sofort an, dass er viel durchgemacht hatte", erinnert sich Ever. Der Bauer und seine Frau arbeiten seit vielen Jahren mit den SOS-Kinderdörfern zusammen, haben bereits vielen Kindern ein liebevolles Zuhause gegeben. Doch Juan stellte selbst die erfahrenen Pflegeeltern vor Herausforderungen.
"Als Juan zu uns kam, hatte er das Gesicht eines traurigen Erwachsenen."
"Am Anfang hat Juan sich in seinem Zimmer eingeschlossen, sich auf den Boden gelegt, die Decke angestarrt und kaum gesprochen. Er war kein Kind mehr. Er war jemand, der durch schlimme Erfahrungen viel zu schnell erwachsen geworden war", erinnert sich Claudia, die sich mit ihrem Mann nicht nur um die große Familie und die Landwirtschaft kümmert, sondern nebenbei auch noch Psychologie studiert hat. Nur langsam gelang es ihr und ihrem Mann Zugang zu dem traumatisierten Jugendlichen zu bekommen. "Aber als wir angefangen haben, zusammen zu tanzen, ist das Eis plötzlich gebrochen", erinnert sich Claudia.
Über das Tanzen fanden die Pflegeeltern endlich Zugang zu Juan. Foto: Jakob Fuhr
Bald jährt sich der Tag, an dem Juan in die tanzende Pflegefamilie kam. Juan möchte den Tag mit seiner Pflegefamilie wie seinen Geburtstag feiern. "Ich habe noch nie in meinem Leben so gute Menschen getroffen wie Claudia und Ever. Sie haben mir eine zweite Chance im Leben geschenkt – und die werde ich nutzen", sagt Juan mit Tränen in den Augen. Und auch seine Pflegeeltern haben glänzende Augen, wenn sie in den höchsten Tönen über ihren Pflegesohn sprechen. "Freundlich, einfühlsam, hilfsbereit, neugierig und immer zu Späßen aufgelegt. Er ist eine große Bereicherung für unsere Familie", sagen Claudia und Ever, die neben Juan zwei weitere Pflegekinder aus Venezuela aufgenommen haben und zudem zwei leibliche Kinder haben.
Nachdem er jahrelang nicht zur Schule gegangen ist, ist Juan jetzt in einer speziellen Klasse für venezolanische Flüchtlinge. Es bringt ihm Spaß, mit Unterstützung seiner Pflegemutter verpassten Stoff nachzuholen, aber noch mehr freut es ihn, in der Schule erstmals seit Jahren stabile Freundschaften aufbauen zu können, in den Pausen Fußball zu spielen und für das Leichtathletik-Team der Schule erfolgreich an Wettkämpfen teilzunehmen.
"Ich habe noch nie in meinem Leben so gute Menschen getroffen wie Claudia und Ever. Sie haben mir eine zweite Chance im Leben geschenkt – und die werde ich nutzen."
Pflegekind will Mechaniker und Vater werden
"Es macht mich sehr glücklich, dass Juan, der so lethargisch war, als er zu uns kam, jetzt so aktiv ist und große Pläne macht", erzählt sein Pflegevater. Als Juan ihm vor ein paar Wochen half, das alte Familienauto zu reparieren, sagte er seinem Pflegevater: "Das macht mir Spaß. Und ich glaube, ich kann es ganz gut, oder? Wenn ich mit der Schule fertig bin, will ich Automechaniker werden!"
Von seinem Pflegevater kann Juan viel lernen. Beide teilen ihre Begeisterung für Motorräder. Foto: Jakob Fuhr
Mittlerweile denkt Juan nicht nur darüber nach, was er mal beruflich machen möchte. Der Junge, der die Flucht vor seinem prügelnden Stiefvater für die beste Entscheidung seines Lebens hält, kann sich gut vorstellen, eines Tages selbst eine Familie zu gründen. Der 14-Jährige: "Irgendwann will ich Kinder haben. Und dann will ich genauso gut zu ihnen sein, wie Claudia und Ever jetzt zu mir sind."
*Name zum Schutz des Jungen geändert
Helfen Sie Kindern und Familien
Not, Hunger, Flucht: In Kolumbien unterstützen die SOS-Kinderdörfer Familien, Kinder und Jugendliche, die vor der ausweglosen Situation in Venezuela fliehen.