Maryan steht auf einem Sportplatz und hält einen Ball.

Die Unbeugsame

"Hier schlägt mich niemand. Ich muss keine Angst haben, vergewaltigt oder ausgeraubt zu werden. Ich kriege drei Mahlzeiten am Tag, es gibt Menschen, die sich um mich kümmern und mich akzeptieren, so wie ich bin. Es ist das beste Leben, das ich je hatte." Maryan* ist 16 Jahre alt. 16 Jahre lang wurde sie enttäuscht, ausgebeutet und missbraucht. Im SOS-Kinderdorf in Ipiales in Kolumbien glaubt das misstrauische Mädchen erstmals daran, dass es auch Menschen gibt, die es gut mit ihr meinen.

Maryan ist zwei Wochen alt, als ihre Mutter sie nicht mehr haben will, das Neugeborene an einer Straßenecke im venezolanischen Tinaquillo aussetzt. So hat man es ihr erzählt. Was Maryan sich merkt: Niemand mag mich. Selbst meine eigene Mutter wollte mich nicht! Ob es wirklich stimmt, dass Maryan ausgesetzt wurde, weiß sie nicht. Sie hat ihre Mutter nie kennengelernt. Sie ist an Krebs gestorben, hat man ihr erzählt.  

Maryan kommt in ein staatliches Kinderheim, wird noch als Baby adoptiert. Ihr Adoptivvater nimmt Drogen, schlägt sie – mal mit der Faust, mal mit dem Gürtel. Noch mehr als die Schläge schmerzen Maryan seine Worte. "Eine Tochter wie Dich habe ich nie gewollt! Du bist ein Nichts!" Maryan merkt sich: Niemand mag mich. Selbst mein eigener Adoptivvater will mich nicht! 

Nachdem er in der venezolanischen Stadt Guanare wieder einmal auf sie eingeprügelt hat, beschließt Maryan, dass sie nie wieder Opfer sein möchte. Sie stopft ein paar Klamotten und eine Decke in ihren Pikachu-Rucksack und schleicht sich aus der Wohnung ihres prügelnden Vaters. Ihr Ziel: die kolumbianische Hauptstadt Bogotá. Dort will Maryan Arbeit finden. Sie ist zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt und hat nicht einen einzigen Peso, aber einen Plan: sich nie wieder schlagen lassen.

Trotz Dunkelheit um sie herum sucht Maryan das Licht - voller Hoffnung und Willenskraft. Foto: Jakob Fuhr

Lebensgefährliche Flucht nach Kolumbien 

Am Stadtrand von Guanare klettert Maryan auf die hintere Stoßstange eines im Stau stehenden Lastwagens und klammert sich am Anhänger fest. Sie hofft, dass der Truck in Richtung Bogotá fährt. An den Lastwagen Richtung Kolumbien kleben viele junge Männer, die vor der Staats- und Wirtschaftskrise in Venezuela fliehen, aber Maryan sieht kein anderes Mädchen, das so jung ist wie sie.     

Spätestens nach drei Stunden auf der Stoßstange zittern ihre Arme so sehr, dass sie sich nicht mehr festhalten kann und abspringen muss. "Einmal bin ich vom Lastwagen gefallen, einmal haben Verrückte – ich glaube, sie hatten Drogen genommen – versucht, uns mit Macheten vom Anhänger zu schlagen. Einen Hieb habe ich abbekommen. Mir war klar, dass ich sterben könnte. Aber das war mir egal. Lieber tot, als zu Hause zu bleiben", erzählt Maryan mit monotoner Stimme, die keinerlei Emotionen verrät.  

Tagsüber fragt Maryan Menschen am Straßenrand nach Essen und Trinken. Sie wird beschimpft und bedroht und bekommt vergammeltes Essen. Nachts rollt sie ihre Decke vor Geschäften aus und wird verscheucht. Maryan merkt sich: Niemand mag mich. 

Vom Vermieter vergewaltigt 

Nach vier Wochen erreicht Maryan Bogotá. Zusammen mit anderen Flüchtlingen aus Venezuela übernachtet sie unter freiem Himmel in einem Park. Bogota liegt auf 2600 Meter Höhe. Nachts wird es kalt, Maryan zittert unter ihrer dünnen Decke. Tagsüber putzt Maryan Wohnungen oder wäscht Autos, bekommt dafür umgerechnet rund 4,50 Euro pro Tag. Niemand fragt, nach der Geschichte des 13-jährigen Mädchens ohne Papiere. Maryan merkt sich: Niemand interessiert sich für mich. 

Nur eine Frau, die Maryan unter lauter jungen Männern im Park sieht, macht sich Sorgen, bringt sie in ein staatliches Waisenheim. "Dort war es schrecklich. Die Frauen im Heim haben mich nur angeschrien. Das hat mich an zu Hause erinnert. Da bin ich abgehauen", erzählt die Ausreißerin. Über zwei Männer, die sie auf der Straße kennengelernt hat, findet Maryan schließlich ein Zimmer in einer runtergekommenen Wohnung in Ciudad Bolívar, dem ärmsten und gefährlichsten Stadtteil der 10-Millionen-Metropole. Umgerechnet knapp 35 Euro pro Monat muss Maryan dort Miete zahlen. Ein guter Deal, denkt die 13-Jährige sich. Bis eines Nachts der Vermieter in ihr kleines Zimmer kommt, ihr seine Hand auf den Mund drückt und sie vergewaltigt. 

Maryan spricht mit niemanden darüber, geht nicht zum Arzt, nicht zur Polizei. "Was hätten sie denn für mich tun können. Niemand interessiert sich für mich. Ich habe nur gebetet, dass ich nicht schwanger und nicht krank werde", erzählt Maryan. 

Heimweh 

Nach der Vergewaltigung verspürt Maryan zum ersten Mal Heimweh. Sie möchte ihre Adoptiv-Oma wiedersehen. Sie möchte sich jemandem anvertrauen, sie möchte, dass jemand sie in den Arm nimmt und tröstet. Wieder packt sie ihren Pikachu-Rucksack, wieder klettert sie auf die Stoßstange eines Lastwagens. Dieses Mal hofft sie, dass der Truck nach Venezuela fährt. 

Als sie ein paar Wochen später ihre Oma wiedersieht, ist Maryans Vertrauen in die alte Frau verschwunden. "Ich hatte Angst, dass sie mich für das, was mir passiert ist, verantwortlich machen würde. Darum habe ich ihr nichts erzählt. Und ich konnte es nicht ertragen, meinen Vater wiederzusehen. Ich konnte ihm einfach nicht verzeihen. Hätte er mich nicht so schlecht behandelt, wäre all das nicht geschehen."

Zwei Wochen später klettert Maryan wieder auf die Stoßstange eines Lastwagens. Jetzt hofft sie, dass er in Richtung Ecuador fährt. Wer hart arbeiten kann, kann dort in der Landwirtschaft gutes Geld verdienen, hat Maryan gehört. Maryan weiß, dass sie hart arbeiten kann. 

Maryan vor dem nächsten Kapitel ihres Lebens - ihr Gesicht bleibt im Schatten, doch ihre Geschichte rückt ins Licht. Foto: Jakob Fuhr

Verprügelt und ausgeraubt 

Nach über 2500 Kilometern, ungezählten Lastwagen und vielen bangen Nächten am Straßenrand, klettert Maryan in der ecuadorianischen Stadt Ventanas von der Stoßstange. Bald findet sie Arbeit auf einer Farm. Jeden Tag von sechs Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags schleppt sie Wassermelonen. Jeden Abend bekommt sie dafür 15 US-Dollar. Sie ist das einzige Mädchen auf der Farm. Die Männer, die den gleichen Job machen, bekommen 20 Dollar pro Tag. Sie können mehr tragen. 

Nach zwei Jahren verspürt Maryan, die mittlerweile versucht, ihre Seele mit einem festen Panzer zu schützen, wieder dieses seltsame Gefühl. Zuletzt hatte sie es, als sie ihrer Oma erzählen wollte, dass sie vergewaltigt wurde. Es dauert, bis Maryan sich eingesteht, dass sie wieder Heimweh hat und ihre Oma wiedersehen möchte. Als Erntehelferin hat sie mittlerweile 150 Dollar gespart. Sie hofft, dass das Geld reicht, um nicht wieder auf einen Truck zu klettern zu müssen. Sie möchte mit dem Bus nach Venezuela reisen.  

Doch sie kommt nicht weit. Kurz vor der ecuadorianisch-kolumbischen Grenze wird die mittlerweile 16 Jahre alte Maryan von zwei Männern überfallen. "Ich wollte ihnen mein Geld nicht geben. Ich hatte zu hart dafür gearbeitet. Da schlugen sie mich mit der Faust ins Gesicht und klauten mir alles. Da konnte ich nicht mehr", berichtet Maryan. 

Neustart im SOS-Kinderdorf 

Zum ersten Mal in ihrem Leben hat Maryan, die bislang trotz allem, was ihr widerfuhr, fest an ihre eigene Stärke geglaubt hatte, das Gefühl, dass sie es aus eigener Kraft nicht mehr schafft. Sie spricht zwei Polizisten an, die ihr 20 Dollar für ein Busticket nach Kolumbien geben. Mit blutverschmiertem Gesicht steigt Maryan in den Bus, an der Grenze wendet sie sich an kolumbianische Polizisten und gelangt so schließlich in das SOS-Kinderdorf im kolumbianischen Ipiales. 

Seit einem Monat helfen die SOS-Kinderdorf-Mutter Ana-Mercedes und ihre sechs SOS-Kinderdorf-Geschwister Maryan, die so oft verraten und enttäuscht wurde, das Vertrauen in die Menschheit zurückzugewinnen. "Ich liebe Dich, Maryan", hat ihre gleichaltrige SOS-Kinderdorf-Schwester Jessica ihr mit einem Kugelschreiber auf den Arm gekritzelt. Wenn der meist schweigsamen Maryan plötzlich die Tränen über die Wangen laufen, nimmt ihre Mutter sie fest in den Arm, bis Maryan sich beruhigt hat und ihr Schluchzen verstummt ist.  

"Ich bin noch nie in meinem Leben so gut behandelt worden. Ich habe das erste Mal das Gefühl, dass mich jemand mag, dass ich nicht allen Menschen egal bin", sagt Maryan. Leise gesprochene Wörter voller Traurigkeit und Dankbarkeit, die SOS-Kinderdorf-Mutter Ana-Mercedes die Tränen in die Augen treiben. "Es gibt nichts, auf das ich stolz sein kann", sagt Maryan zu Ana-Mercedes. "Doch Maryan! Du bist ein unglaubliches starkes Mädchen. Niemand hat Dich brechen können. Es gibt so viele Gründe, warum Du sehr stolz auf Dich sein kannst", antwortet Ana-Mercedes und drückt Maryan wieder fest an sich. 

Ein Moment kindlicher Unbeschwertheit, den sich Maryan zurückerobert. Foto: Jakob Fuhr

Maryan holt ihre Kindheit nach 

Die erfahrene SOS-Kinderdorf-Mutter weiß, dass sie ihrem Schützling Zeit und Raum geben muss, damit die erlittenen Traumata heilen können. Schreiben und Musik helfen der 16-Jährigen dabei. Mit ordentlicher Handschrift schreibt Maryan Gedichte in ein kleines Notizheft. "Die Traurigkeit meines Herzens ist wie Sturm und Donner und dennoch vertrocknet mein Herz", heißt es dort. Wenn Maryan singt, singt sie mit unendlich trauriger Stimme: "Ich bin so einsam wie ein Straßenhund, aber ich versuche, die Leere in meinem Herz zu füllen."

Das Leben hat Maryan gezwungen, viel zu früh erwachsen zu werden, sich auf nichts und niemanden zu verlassen, allem und jedem zu misstrauen. Im SOS-Kinderdorf lernt sie jetzt langsam, ein Mädchen zu sein und die Kindheit nachzuholen, die sie nie hatte. Ana-Mercedes freut sich, dass Maryan in letzter Zeit immer häufiger nicht allein über ihrem Notiz- und Zeichenbuch brütet, sondern mit ihren SOS-Kinderdorf-Geschwistern auf der Schaukel oder auf dem Fußballplatz spielt.  

Als Maryan vor vier Wochen mit blutverschmiertem Gesicht ins SOS-Kinderdorf kam, war sie körperlich und emotional erschöpft, wollte nur schlafen, mit niemandem sprechen, nicht über ihre Zukunft nachdenken. Doch mittlerweile macht Maryan wieder Pläne: "Ich will Polizistin werden. Ich will Leuten helfen und sie beschützen. Aber vor allem will ich dafür sorgen, dass Menschen, die Böses getan haben, bestraft werden."

Abonnieren Sie unseren Newsletter

Erhalten Sie regelmäßig Informationen zu aktuellen Projekten.

Ihre Spende an die SOS-Kinderdörfer weltweit können Sie von der Steuer absetzen. Die SOS-Kinderdörfer weltweit sind als eingetragene gemeinnützige Organisation anerkannt und von der Körperschaft- und Gewerbesteuer befreit. (Steuernummer 143/221/91910)