Als Mathilde Verhall Vietnam verließ, war dies ein Abschied, den sie kaum verkraften konnte und noch schlimmer traf es das Mädchen. Nguyet habe zwei Wochen lang nichts gegessen, nur geweint, erzählte man später.
Als Rot-Kreuz-Krankenschwester war Mathilde Verhall 1967 mit dem Hospitalschiff Helgoland nach Vietnam gekommen, um zu helfen, wo der Krieg das Land und die Menschen gnadenlos zerstörte. Die Helgoland lag vor der Küste Da Nangs und täglich kamen neue Verwundete, die auf dem Schiff versorgt wurden. Auch viele Kinder waren dabei, so viele, dass sich die Besatzung bald entschied, bis zu drei in einem Bett unterzubringen.
Ein amerikanischer Soldat brachte Nguyet hierher. Er hatte das Mädchen in einem Wald gefunden, halb verhungert und mit gebrochenen Beinen infolge einer Rachitis. Auf der Helgoland wurde Nguyet behandelt und mit Essen versorgt. Mathilde Verhall war Oberin der Station und so oft sie konnte, nahm sie ein paar der Kinder mit an Deck. "Unten hatten sie ja nur künstliches Licht und das bisschen Tageslicht, das durch die Bullaugen kam." Nguyet fasste bald Vertrauen zu der Krankenschwester und mehr noch: Sie wurde zusehends fröhlicher, erholte sich gesundheitlich. Und immer, wenn Mathilde Verhall eine freie Minute hatte, war das Mädchen an ihrer Seite. "Sie hat mich einfach einkassiert!", sagt die ehemalige Krankenschwester, inzwischen 82 Jahre alt, lachend.
Nach einem Jahr endete Mathilde Verhalls Vietnam-Einsatz. Sie träumte davon, das Mädchen mit nach Deutschland zu nehmen, nach Hause nach Lingen an der Ems - und entschied sich dagegen. Sie war alleinstehend, musste arbeiten. Wie hätte sie sich um das Kind kümmern sollen?
Die Krankenschwester fand eine andere Lösung: "Mit großem Interesse verfolgten wir damals den Aufbau des SOS-Kinderdorfes in Go Vap. Immer wieder hatten wir Kinder, deren Eltern im Krieg gestorben waren, nach ihrer Genesung dort unterbringen können. Es war wunderbar, zu wissen, dass die Kinder gut aufgehoben waren." Nun brachte sie auch Nguyet ins SOS-Kinderdorf, das Mädchen, das Mathilde Verhall noch heute als ihre Tochter bezeichnet und für das sie, wenn sie schon nicht mit ihm zusammen leben konnte, damals die Patenschaft übernahm. Die Beiden blieben in Kontakt und Mathilde Verhall stellte erleichtert fest, dass es Nguyet mit der Zeit immer besser ging. "Ich hatte immer noch Heimweh nach Vietnam und Sehnsucht nach meinem Mädchen, aber ich war nicht mehr so in Sorge um sie."
Als die Regierung 1976, nach Ende des Vietnam-Krieges, die SOS-Kinderdörfer schließen ließ, riss der Kontakt ab. Die betreuten Jungen und Mädchen wurden aus der schützenden Dorfgemeinschaft gerissen, nicht aber aus ihren neuen Familien: So gut wie alle SOS-Mütter behielten die Kinder bei sich, und als die SOS-Kinderdörfer 1987 endlich wiedereröffnet werden durften, waren die Familien von damals bald wieder gefunden.
Mathilde Verhall hatte inzwischen eine weitere SOS-Patenschaft für einen Jungen abgeschlossen, später wurde sie ein drittes Mal Patin, aber die Frage blieb, was denn wohl aus Nguyet geworden ist. Die Frage und wieder die Sorge.
Die Geschichte hat ein Happy End. Vor einigen Jahren fanden sich die beiden wieder und Mathilde Verhall erfuhr, dass es Nguyet gut geht. "Sie arbeitet als Buchhalterin, ist verheiratet mit einem netten Mann und hat drei Kinder", erzählt die ehemalige Krankenschwester, Stolz schwingt da mit. Eben erst hat sie wieder ein Paket aus Vietnam bekommen. Ein Dreieckstuch war darin, gestrickt von ihrer Nguyet.
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