Um den Kinderschutz zu garantieren, ist für Teresa Ngigi, Psychologin der SOS-Kinderdörfer, entscheidend, dass alle Mitarbeiter:innen ein gutes Verständnis von Traumata haben. Nur dann seien sie in der Lage, stabile Beziehungen und ein sicheres Umfeld aufzubauen.
Frau Ngigi, als Psychologin sind Sie viel unterwegs in den SOS-Kinderdörfern, aber auch in Familien und Gemeinden im Umfeld. Woran lesen sie ab, dass der Kinderschutz gewährt ist?
Das wichtigste Kriterium ist, dass sich das Kind selbst sicher fühlt. Es reicht nicht aus, wenn ein Kind objektiv in Sicherheit ist, aber es dies nicht so empfindet. Manche Kinder drücken das genau so aus: Ich weiß, dass ich sicher bin, aber es fühlt sich nicht so an!
Das heißt, beim Kinderschutz geht es nicht nur darum, dass ein Kind nicht geschlagen und misshandelt wird?
Das müssen wir natürlich unter allen Umständen garantieren. Aber aus unserer Sicht bedeutet Kinderschutz noch mehr: Es ist unsere Verpflichtung, den Kindern zu ermöglichen, angstfrei und in einem geschützten Umfeld aufzuwachsen. Nur dann können sie sich wirklich entfalten.
Was ist denn nötig, damit sich ein Kind sicher fühlt?
Abgesehen von der Grundversorgung sind tragfähige, gesunde Beziehungen alles entscheidend. Ein Kind muss den Erwachsenen, mit denen es zusammenlebt, vertrauen können.
Viele der Kinder in den SOS-Kinderdörfern haben bereits traumatische Erfahrungen gemacht und es fällt ihnen schwer, sich wieder zu öffnen.
Deshalb ist es – neben der psychologischen Unterstützung – ganz wichtig, dass alle unsere Mitarbeiter, egal, ob sie direkt oder indirekt mit den Kindern arbeiten, ein gutes Verständnis von Traumata haben. Sie müssen wissen, dass ein Trauma das ganze Leben eines Kindes und seine Beziehungen zu anderen Menschen beeinflussen kann. Ohne dieses Wissen ist Kinderschutz nur Kosmetik. Besonders in den Krisenländern müssen wir unsere Arbeit hier noch verstärken.
Wie unterstützt dieses Wissen eine SOS-Kinderdorf-Mutter, einen Lehrer oder eine Sozialarbeiterin beim Kinderschutz?
Sie lernen das Verhalten eines Kindes besser einzuordnen. Und zum Beispiel, wenn es aggressiv und wütend ist, dennoch besonnen und zugewandt zu reagieren, anstatt selbst aus der Haut zu fahren. Jedes Verhalten, das ein Kind zeigt, ist eine Form der Kommunikation. Wenn ich das verstehe, ändert sich alles. Ich frage dann nicht: Warum benimmst du dich so unmöglich, sondern: Was ist dir passiert?
"Jedes Verhalten, das ein Kind zeigt, ist eine Form der Kommunikation. Wenn ich das verstehe, ändert sich alles."
Das erfordert auch, dass die Erwachsenen das Verhalten des Kindes nicht persönlich nehmen. Wie gelingt das?
Auch hier ist der traumabezogene Ansatz der Schlüssel: Jeder von uns hat seine Geschichte und seine eigenen traumatischen Erlebnisse gemacht. Das müssen nicht immer Katastrophen sein: Auch wenn ich vielleicht als Kind häufig zurückgewiesen oder verspottet wurde oder wenn meine Interessen regelmäßig ignoriert wurden, hinterlässt das Spuren. Ein Wutausbruch eines Kindes kann dann meine eigenen Verletzungen erneut aktivieren und ich reagiere gereizt und unbeherrscht und die Situation kann eskalieren.
Je besser ich dagegen über meine eigenen Wunden Bescheid weiß und mich um Heilung bemühe, desto weniger beziehe ich die Wutausbrüche eines Kindes auf mich. Stattdessen kann ich schauen, was das Kind braucht.
Klappt das auch in Stress-Situationen?
Mit zunehmendem Stress wird es natürlich schwieriger. Deshalb müssen insbesondere die Kinderdorfmütter alle Unterstützung bekommen und ein Umfeld, in dem es ihnen gut geht: Sie müssen gut ausgebildet sein und ihre Arbeitsbedingungen müssen stimmen, sie müssen gut bezahlt werden, genug Freizeit haben, gehört werden und für die praktischen Abläufe im Alltag genügend Hilfe bekommen. All dies trägt zu einer hohen Qualität der Betreuung bei und damit zum Kinderschutz.
Die SOS-Kinderdörfer arbeiten auch in Ländern, in denen es gesellschaftlich noch akzeptiert ist, Kinder mit Schlägen zu erziehen. Wie garantieren sie den Kinderschutz dort?
Unsere Richtlinien sind eindeutig: Kinder dürfen in unseren Programmen nicht geschlagen werden, egal wo. Aber das allein reicht nicht. Einer Kinderdorfmutter in Ecuador, die selbst mit Schlägen erzogen wurde, können wir dies nicht einfach nur verbieten, sondern müssen ihr Alternativen aufzeigen. Die Mutter muss geschult werden und Methoden erlernen, um mit ihren Kindern gewaltfrei umzugehen.
Es ist also entscheidend, den jeweiligen kulturellen Hintergrund zu berücksichtigen?
Absolut! Ein anderes Beispiel: Es ist auch Teil des Kinderschutzes, dass Kinder in unseren Programmen lernen, für sich einzustehen, eigene Entscheidungen zu treffen und zu sagen, wenn etwas nicht stimmt. Nun gilt aber zum Beispiel in Kenia vielerorts noch, dass sich Kinder unterordnen sollen. Es heißt dort: „Kinder soll man sehen, aber nicht hören!“ Das kann zum Beispiel bei Verwandtenbesuchen zu vielen Konflikten führen.
Was ist die Lösung?
Offen zu sprechen und bei allen Beteiligten ein Bewusstsein zu schaffen. Und den Kindern Wege aufzuzeigen, ihre Ansichten respektvoll vorzubringen. Wir wollen ja die Kinder nicht von ihren Gesellschaften separieren, sondern sie im Gegenteil gut darauf vorbereiten.
Als Organisation müssen wir all diese Themen mit hoher Sensibilität betrachten und immer wieder in der Praxis überprüfen, ob unsere Richtlinien dort wirklich angekommen sind – und wo wir noch mehr tun müssen.