Indien erzielte bei der Bekämpfung von Armut in den vergangenen Jahrzehnten große Erfolge. Aber die Folgen von Klimawandel und Corona-Krise unterbrechen den Aufwärtstrend und treffen die Ärmsten am härtesten.
In absoluten Zahlen gemessen, leben in Indien immer noch die meisten Menschen weltweit in Armut: 230 Millionen Inder müssen mit etwa zwei US-Dollar pro Tag* auskommen.
Prozentual betrachtet, hat sich die Situation jedoch immens verbessert: In den vergangenen vier Jahrzehnten sank die Armutsrate in Indien von über 60 auf rund 17 Prozent (Stand: Dezember 2021). Etwa fünf Prozent der indischen Bevölkerung gelten als extrem arm, haben also noch weniger als zwei US-Dollar fürs tägliche Leben zur Verfügung. 415 Millionen Menschen entkamen allein innerhalb der letzten 15 Jahre der Armut.
Dadurch hat sich der Armutsbrennpunkt der Welt von Südasien nach Afrika südlich der Sahara verlagert. 1,42 Milliarden Menschen leben in Indien (nur die Volksrepublik China hat mit 1,45 Milliarden mehr Einwohner), das mit einer Fläche von 3.287.000 km² das siebtgrößte Land der Erde ist.
Geben Sie Kindern eine Zukunft!
Unterstützen Sie die Arbeit der SOS-Kinderdörfer in Indien - helfen Sie mit Ihrer Spende oder Patenschaft!
Folgen von Klimawandel und Corona-Krise
Der von starken Gegensätzen geprägte Staat konnte seit Beginn der 1990er Jahre konstant Wachstumsraten von rund zehn Prozent verzeichnen. Unterbrochen wurde diese positive Entwicklung im Jahr 2020 vor allem durch die Folgen der Corona-Pandemie, die zu Arbeitslosigkeit, landesweiten Schulschließungen und Bildungsstopps führten. Auch die Folgen des Klimawandels wie Ernteausfälle durch Dürre beendeten den Trend der vergangenen Jahre und stürzte wieder mehr Menschen in Indien in die Armut.
Indiens Wirtschaft weiterhin stabil
Allerdings gelang Indien nach einem kurzen Zwischentief 2020 von bis zu minus 23,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ein Wachstumsratenrekord im Sommer 2021 von 20,1 Prozent. Danach sanken die Werte erneut – beeinflusst u.a. durch weltweite Corona-Maßnahmen, steigende Preise für Lebensmittel und Treibstoff sowie den Folgen des Kriegs in der Ukraine.
Im Sommer 2022 erholte sich die indische Wirtschaft erneut. Mit einem BIP von 3,53 Billionen US-Dollar zählt Indien 2022 zu den größten Volkswirtschaften der Welt. Laut einer Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) könnte Indien in den nächsten Jahren sogar Deutschland von Platz vier verdrängen. Als Grund für die trotz aller weltweiten Krisen dynamisch wachsende Wirtschaft Indiens, nennen Experten unter anderem die Bündnisse von Russland mit Indien sowie China, wodurch Indien Russlands Sanktionen im Zuge des Ukraine-Krieges erspart blieben. Ein weiterer Grund für die stabile Wirtschaft Indiens: Sie bietet Weltunternehmen eine Alternative zu China, wo Betriebe aufgrund von strikteren Corona-Maßnahmen beispielsweise Fertigungs- und Lieferrückstände haben. Immer mehr internationale Konzerne investieren in den Standort Indien.
Armut in Indien: vom Dorf in den Slum
Trotz der großen Erfolge bei der Bekämpfung der Armut in der indischen Bevölkerung in den vergangenen Dekaden leben 2022 noch mindestens 17 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Bei rund fünf Prozent der Inder sorgt extreme Armut für ihren täglichen Kampf ums Überleben. Die meisten von ihnen leben auf dem Land und halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Der Mangel an existenzsichernden Arbeitsplätzen in ländlichen Gebieten treibt viele Inder in die rasant wachsenden Metropolregionen wie Bombay, Delhi, Bangalore oder Kalkutta. Die Urbanisierungsrate in Indien stieg von 31,2 Prozent 2011 auf 35,4 Prozent.
Dort finden aber in der Regel nur Fachkräfte gute Jobs. In den Jahren 2009 bis 2019 sank die Arbeitslosenquoten von 5,6 auf 5,2 Prozent. Erst mit der Corona-Krise stiegen die Arbeitslosenzahlen wieder.
Schlechter ausgebildete Inder erwartet aber in den Großstädten meist ein von Armut und Verzweiflung geprägtes Leben in den aus Millionen von Wellblechhütten bestehenden Mega-Slums – ohne ausreichende Trinkwasserversorgung, Müllabfuhr und in vielen Fällen auch ohne Elektrizität. Die schlechten Hygienebedingungen sind Ursache für Krankheiten wie Cholera, Typhus und Ruhr, an denen vor allem Kinder leiden und sterben. Die Corona-Pandemie hat das ohnehin überlastete Gesundheitssystem zusätzlich geschwächt.
Geben Sie Kindern eine Zukunft!
Unterstützen Sie die Arbeit der SOS-Kinderdörfer in Indien - helfen Sie mit Ihrer Spende oder Patenschaft!
Die hohe Kindersterblichkeit
Dennoch sank die Anzahl der Kinder, die in Indien vor ihrem fünften Geburtstag sterben, von rund 67 Sterbefällen pro 1.000 Lebendgeburten im Jahr 2000 auf rund 27 im Jahr 2022.
Es gibt 472 Millionen indische Kinder unter 18 Jahren. Sie machen ein Drittel der Gesamtbevölkerung des Landes aus. Von diesen Kindern sind 29 Prozent zwischen 0 und 6 Jahre alt. Als häufigste Ursachen für den Tod von kleinen Kindern gelten in Indien Krankheiten wie Lungenentzündungen, Malaria und Durchfallerkrankungen sowie die chronische Unter- bzw. Mangelernährung.
Hunger und Unterernährung
Bei der Unterernährung belegte Indien jahrzehntelang Spitzenplätze: Fast 248 Millionen Menschen waren in den Jahren 2004 bis 2006 nicht ausreichend versorgt, davon rund 60 Millionen Kinder. In den Jahren 2019 bis 2021 sanken die Zahlen trotz Coronakrise und die durch den Klimawandel bedingte Hitzewelle auf 224 Millionen der Gesamtbevölkerung und 36 Millionen Kinder. Die Zahl unterernährter Kinder unter fünf Jahren verringerte sich im Zeitraum von 2012 von drei Millionen auf 2,2 Millionen 2020.
Die Verbesserung liegt unter anderem an Maßnahmen der indischen Regierung, die zum Beispiel jedem Kind an staatlichen Schulen eine warme Mahlzeit pro Tag kostenfrei anbietet. Aber: Der Welthungerindex-Bericht 2022, bei dem 136 Länder weltweit untersucht werden, zeigte, dass fast jedes fünfte Kind in Indien unter Auszehrung leidet. Das bedeutet: Es wiegt zu wenig für seine Größe. Das ist der schlechteste Wert in dieser Kategorie aller untersuchten Länder. In der Gesamtauswertung liegt Indien 2022 auf Platz 107 mit einem Welthungerindex von 29,1, den die Experten als „ernst“ einstufen. Der Wert lag im Jahr 2000 noch bei 38,8 und setzt sich aus diesen vier Faktoren zusammen: Unterernährung (Anteil der Bevölkerung, dessen Kalorienbedarf nicht gedeckt ist), Kindersterblichkeit (Anteil der Kinder, die vor ihrem 5. Geburtstag sterben), Auszehrung (Anteil von Kindern unter 5 Jahren mit zu niedrigem Gewicht) und Wachstumsverzögerung (Anteil von Kindern unter 5 Jahren mit zu geringer Körpergröße).
Diese Zahlen zeigen, dass Indien trotz vieler Verbesserungen, Wirtschaftswachstum und moderner Digitalisierung die schwachen Glieder der Gesellschaft nicht vergessen dürfen.
Kinderarbeit – keine Zeit zum Spielen und Lernen
Obwohl Kinderarbeit für unter 14-Jährige in Indien per Gesetz verboten ist, arbeiten Millionen Kinder, anstatt in die Schule zu gehen. Seit der Volkszählung im Jahr 2011 wurden keine zuverlässigen Zahlen mehr veröffentlicht. Damals gab es laut offiziellen Angaben mindestens zehn Millionen Kinderarbeiter. Hilfsorganisationen gehen jedoch davon aus, dass es in Wirklichkeit noch viel mehr sind:
Im Jahr 2006 gingen rund 13,5 Millionen indische Kinder zwischen 6 und 14 Jahren nicht zur Schule. Diese Zahl verringerte sich bis zum Jahr 2014 um mehr als die Hälfte auf rund 6,1 Millionen. Die positive Entwicklung hielt bis zur Covid-Krise an. Diese hatte in den Jahren 2020 bis 2022 dazu geführt, dass rund 150 Millionen Kinder keine Schule besuchen konnten. Da währenddessen viele Erwachsene ihre Arbeit verloren, mussten viele Kinder Möglichkeiten finden, um zum Familienunterhalt etwas beizusteuern und rutschten in die Kinderarbeit.
Bildungschancen verbessert
Ohne Bildung ist die Chance auf eine existenzsichernde Arbeitsstelle praktisch aussichtslos - und das Leben in Armut in Indien programmiert. Etwa fünf Prozent aller indischen Kinder im Grundschulalter besuchten im Jahr 2020 keine Grundschule, 1990 waren es noch rund 23 Prozent. Über Jahrzehnte wurden vor allem Mädchen in Sachen Bildung benachteiligt. So besuchte vor der Jahrtausendwende nur etwa ein Drittel der jungen Frauen eine weiterführende Schule. Im Jahr 2011 waren es bereits zwei Drittel und 2020 75 Prozent der Mädchen. Somit zogen sie mit ihren männlichen Mitschülern gleich. Dennoch fehlt immer noch 25 Prozent der indischen Kinder eine gute Schulbildung und damit die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Die Coronakrise führte zusätzliche zu vielen Schulabbrüchen.
Kinderehen – das frühzeitige Ende der Kindheit
Seitdem im Jahr 2006 die Verheiratung Minderjähriger verboten wurde, ist die Zahl der Kinderehen stark gesunken: von 47,4 Prozent auf 23,3 Prozent im Jahr 2021. Um das SDG-Ziel der Vereinten Nationen – die Zahl der Kinderehen bis zum Jahr 2030 auf 0 zu senken – muss allerdings noch einiges geschehen.
In vielen Regionen Indiens ist die Praxis noch verbreitet und die Leittragenden sind vor allem junge Mädchen, die selbst noch Kinder sind, und in der Zwangsehe oft viel zu früh Mütter werden. Viele von ihnen sterben bei der Geburt.
Armut und die Hoffnung auf ein besseres Leben für ihre Töchter – das geben viele Eltern als Gründe für die viel zu frühe Heirat an.
Geben Sie Kindern eine Zukunft!
Unterstützen Sie die Arbeit der SOS-Kinderdörfer in Indien - helfen Sie mit Ihrer Spende oder Patenschaft!
HIV/AIDS in der indischen Gesellschaft
2,4 Millionen Inder sind mit dem HI-Virus infiziert; etwa 69.000 davon sind Kinder unter 14 Jahren. 15- bis 24-Jährige machen rund 1,7 Millionen der HIV-Infizierten aus. Im Jahr 2021 gab es rund 63.000 Neuansteckungen. Das ist ein Rückgang von über 46 Prozent seit dem Jahr 2010. Auch die Zahl der infolge von an Aids Verstorbenen sank seit dem Jahr 2010 um 75 Prozent auf nun 42.000. In Armutsvierteln leben weiterhin viele Aids-Waisen, die auf Hilfe angewiesen sind.
* Bis September 2022 wurde die Armutsline noch bei 1,90 US-Dollar pro Person pro Tag gezogen. Seitdem hat die Weltbank sie bei 2,15 US-Dollar täglich angesetzt.