Als eine der ersten Psycholog:innen war Teresa Ngigi nach Kriegsende in der äthiopischen Region Tigray. Im Interview schildert die Chefpsychologin der SOS-Kinderdörfer ihre Eindrücke und sagt, was die Menschen jetzt am dringendsten brauchen.
Frau Ngigi, als eine der ersten Psycholog:innen haben Sie die Tigray-Region nach dem Bürgerkrieg besucht. Wie war ihr erster Eindruck?
Es war offensichtlich, dass der Konflikt von allen – Kindern wie Erwachsenen – einen hohen Preis gefordert hat. Sie haben schlimme Dinge erlebt, Freunde und Angehörige verloren, sie leiden unter dem Gefühl von Isolation, Hilflosigkeit und Angst.
Gilt dies auch jetzt noch, nach dem Friedensabkommen?
Die Menschen trauen dem Frieden nicht! Fast jeder hier hat Traumata erlitten. Es sind Horrorgeschichten, die sie erzählen. Frauen, auch junge Mädchen, berichten von furchtbaren Vergewaltigungen. Sie fühlen sich ihrer Würde und Menschlichkeit beraubt. Ein Vater erzählte mir von seinem dreijährigen Sohn, der in permanenter Anspannung ist und bei jedem Flugzeug oder lautem Geräusch denkt, dass der Krieg wieder beginnt. Auch viele Erwachsene sind noch im Schock, viele sind wütend.
Auch das SOS-Kinderdorf Mekelle liegt mitten im Kriegsgebiet. Wie ist es den Kindern und Mitarbeitern dort ergangen?
Die Soldaten haben auch bei uns Lebensmittel geplündert, aber sie haben das Kinderdorf selbst nicht betreten. Wir hatten großes Glück. Wir waren auch die einzige Organisation, die die Gehälter zumindest zum Teil weiterzahlen konnte. Die allermeisten Menschen haben zwei Jahre lang kein Geld bekommen. Trotzdem haben auch unsere Kinder und Mitarbeiter gravierende Traumata erfahren. Sie haben sich permanent um ihre Freunde und Verwandten gesorgt, immer wieder von Gräueltaten erfahren und lebten in permanenter Angst und Ungewissheit.
Wie war die Versorgungslage im Kinderdorf?
Zeitweise war die Region völlig von der Außenwelt isoliert. Es fehlte an allem: Nahrung, Medikamente und Benzin. Glücklicherweise haben unsere Mitarbeiter in den Geschäften Lebensmittel auf Kredit bekommen. Das Wenige, was sie hatten, haben sie mit den Menschen in der Nachbarschaft geteilt. Aber die Herausforderungen wurden nicht weniger: Während des Krieges wurden 13 Babys zu uns gebracht, deren Eltern gestorben oder verschollen waren. Die Kinderdorf-Mütter waren in großer Sorge, sie ernähren zu können. Babynahrung gab es nicht. Irgendwie haben sie es geschafft, alle 13 sind wohlauf.
Neben lebenswichtigen Gütern fehlte es den Menschen auch an Kommunikationsmöglichkeiten. Wie hat sich das ausgewirkt?
Viele haben mir gesagt, dass sie das Gefühl hatten, völlig verlassen zu sein, und dass es der Welt egal sei, ob sie leben oder sterben. Ich kann nur erahnen, wie schmerzhaft das ist.
Seit November 2022 ist der Krieg vorbei. Wie sieht Tigray heute aus?
Die Stadt Mekelle, vor dem Krieg blühend und aufsteigend, ist überfüllt von Geflüchteten, viele Häuser sind zerstört, auf Baustellen wächst das Gras. Die Versorgungswege sind wieder geöffnet und humanitäre Hilfe ist zum Glück wieder möglich. Aber der Bedarf ist gewaltig. Neben materieller Hilfe brauchen die Menschen jetzt vor allem psychologische Unterstützung. Sie haben einfach zu viel erlebt! Wir müssen ihnen bei der Verarbeitung ihrer schlimmen Erlebnisse zur Seite zu stehen. Andernfalls werden Traumata und Wut mit großer Wahrscheinlichkeit an die nächste Generation weitergegeben. Dann können wir damit rechnen, dass in zehn bis 15 Jahren der Krieg von vorne beginnt. Das müssen wir verhindern.
In Tigray leben über sieben Millionen Menschen, von denen Sie sagen, dass ein Großteil Traumata erlitten hat. Wie kann man so vielen Betroffenen helfen?
Das ist tatsächlich eine große Aufgabe. Aber nicht jeder braucht individuelle Intensivbetreuung. Während meines Aufenthalts habe ich größtenteils in Gruppen mit Kindern, Müttern und unseren Mitarbeitern gearbeitet. Ich habe ihnen Techniken gezeigt, die ihnen helfen, ihre Traumata zu verarbeiten, Resilienz und Selbstfürsorge stärken. Schon nach wenigen Tagen war Veränderung spürbar. Viele Menschen konnten die unheilvolle Dynamik von Traumata erkennen. Manche kamen zu mir und sagten, dass sie sich freier fühlen, nicht mehr so verbittert, und dass sie angefangen haben zu vergeben.
Für die Kinder wird es nun auch darum gehen, ihre Schulbildung wieder aufzunehmen. Wie muss man sich das vorstellen nach zwei Jahren Pause?
Es sind aufgrund der Corona-Maßnahmen vor Ausbruch des Konflikts sogar fast drei Jahre! Schüler und Lehrer können nicht einfach da anknüpfen, wo sie aufgehört haben. Dazwischen liegt ein Krieg. Auch sie müssen von Psychologen vorbereitet und begleitet werden. All das ist immens wichtig. Die psychologische Unterstützung ist vielleicht die wichtigste Investition in einen langfristigen Frieden, die wir jetzt leisten können.