Der Schnitt

Eine Elfjährige setzt sich in ihrer Gemeinde in Äthiopien erfolgreich gegen die weibliche Genitalverstümmelung ein

Als Selam* eines Tages von der Schule nach Hause kam, warteten ihre Mutter und eine ältere Frau auf sie. Sie wollten "einen winzigen Teil" ihres Körpers abschneiden. Selam wusste sofort, was die beiden meinten. Sie würden sie festhalten und ihre Klitoris abtrennen. Danach würde sie sehr viel Blut verlieren. Manche Mädchen wurden danach ohnmächtig, andere starben.

Das geschah vor eineinhalb Jahren. Die Drittklässlerin musste schnell handeln. Sie erinnerte sich in diesem Moment daran, dass eine Dame vom Ministerium für Frauen- und Kinderrechte sie und die anderen Kinder in der Schule über die Gefahren der Genitalverstümmelung aufgeklärt hatte. Halima hieß die Frau, die sie dazu ermutigt hatte, jeden Vorfall von weiblicher Genitalverstümmelung zu melden. Und das tat Selam: Geistesgegenwärtig verschwand sie unter dem Vorwand, auf die Toilette zu müssen, und rannte zu Halimas Büro.

"Meine Freundinnen und ich haben gesunde Körper, an denen nichts verändert werden muss. Alles, was wir wollen, ist weiter zur Schule zu gehen."

SELAM AUS ÄTHIOPIEN

Gefährliche Tradition Genitalverstümmelung

Alle erwachsenen Frauen in diesem Dorf haben den "Schnitt" – wie sie ihn nennen – hinter sich und möchten diese Tradition auch bei ihren Töchtern fortsetzen. Doch Selam brach 2021 mit dem Brauch und meldete ihre Mutter und die Beschneiderin bei den zuständigen Behörden. Ein mutiger Schritt für eine Elfjährige, die später als Ärztin arbeiten möchte. "Meine Mutter fragte mich, warum ich sie angezeigt hatte, und ich sagte ihr, dass bereits ein Mädchen im Dorf bei einer Beschneidung gestorben ist", erklärt Selam. "Ich wollte das nicht, weil die Blutung vielleicht nicht mehr aufhört. Und ich sagte ihr, dass ich auch nicht heiraten will, weil ich die Schule beenden möchte."

Selam und ihre Mutter Sieda in Äthiopien.

Weibliche Genitalverstümmelung ist gesetzlich verboten

Die Kinder- und Frauenvertreterin Halima brachte Selams Mutter Sieda und die Beschneiderin zur Polizei. Weibliche Genitalverstümmelung (englisch: female genital mutilation, kurz: FGM) ist seit 2004 nach dem äthiopischen Strafgesetzbuch verboten. Offiziellen Zahlen aus dem Jahr 2016 zufolge sind zwei von drei Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren in Äthiopien beschnitten.

Sieda und die Beschneiderin wurden zu einer Geldstrafe von umgerechnet jeweils 50 Euro verurteilt und zwei Tage lang in einer Gefängniszelle festgehalten. "Wir warnten die Beschneiderin, dass sie strenger bestraft werde, wenn sie jemals wieder so etwas macht", sagt Halima. "Und der Mutter sagten wir, dass sie dafür verantwortlich sei, diese Generation unbeschadet in die Zukunft zu führen, und dass sie zur Verantwortung gezogen würde, wenn sie noch einmal mitmachen würde."

"Unsere Eltern haben es mit uns gemacht, und deshalb wollten wir es auch mit unseren Kindern tun. Aber die Frauenbeauftragte Halima hat uns erklärt, dass das gefährlich und illegal ist. Ich habe geschworen, es nicht mehr zu tun", sagt Selams Mutter Sieda.

Gründe für die Beschneidung von Mädchen

Sieda hat die Beschneidung ihrer erstgeborenen Tochter veranlasst, "weil es Brauch ist. Wir glaubten, dass der Teil, den wir entfernen, unrein ist." Heute weiß sie es – dank Selams Einsatz – besser.

"Ich wurde als kleines Mädchen beschnitten und erinnnere mich, welche Schmerzen ich ertragen musste. Ich möchte nicht, dass meine Töchter dies aufgrund meiner Unwissenheit durchmachen müssen."

SELAMS MUTTER

Die konservativen Dorfältesten – weitestgehend Männer – sind der Meinung, dass die Beschneidung ein wichtiger Teil der Kultur ist. Sobald die körperlichen Wunden des Mädchens nach etwa zwei Monaten geheilt sind, wird sie als "heiratsfähige Frau" erachtet. Diese Denkweise in den Köpfen zu ändern, und damit die tief verwurzelte kulturelle Praxis zu beenden, braucht Zeit.

Halimas Büro arbeitet mit religiösen Führern zusammen – in der Hoffnung, dass sie ihren Einfluss nutzen, um auch die Dorfältesten vom Stop der grausamen Beschneidung zu überzeugen. Mittlerweile ist auch Selams Vater gegen die weibliche Genitalverstümmelung und fordert, dass sich etwas ändert: "Beschneidet meine Mädchen nicht. Setzt sie nicht den Problemen aus, die andere Frauen durchmachen mussten."

Mutter und Tochter halten zusammen.

Junge Botschafterin

Selam ist inzwischen in ihrer Gemeinde bekannt dafür, dass sie sich gegen FGM einsetzt. Sie spricht selbstbewusst bei Gemeindeversammlungen und in der Schule über ihre eigene Geschichte. "Ich erzähle anderen Mädchen in der Schule und im Dorf, dass eine Heirat in jungem Alter nicht notwendig ist, und dass die Beschneidung verboten ist", sagt sie. "Die Mädchen müssen weiter zur Schule gehen. Und wenn ihre Eltern versuchen, sie zu zwingen, werden sie vor Gericht gestellt. Seit unsere Eltern diese Botschaft gehört haben, drängen sie nicht mehr auf eine Beschneidung! Meine Freundinnen und ich haben gesunde Körper, an denen nichts verändert werden muss. Alles, was wir wollen, ist weiter die Schule zu besuchen."

SOS-Kinderdörfer gegen die Beschneidung von Mädchen

Seit zwei Jahren arbeitet das Ministerium für Frauen- und Kinderrechte in Äthiopien eng mit den SOS-Kinderdörfern zusammen, um die Menschen über Traditionen aufzuklären, die die Rechte der Kinder verletzen. "Wir treffen uns und diskutieren darüber", sagt Halima. "Wir räumen mit dem seit Generationen vorherrschenden Vorurteil auf, dass die Klitorisunrein sei, dass sie Mädchen zu Prostituierten mache und sie daran hindere, Kinder zu bekommen!"

Seit Beginn der Zusammenarbeit wurden mindestens 26 Mädchen vor der Beschneidung und acht weitere vor der Frühverheiratung geschützt.
 

Folgen von FGM

  • Es gibt verschiedene Arten der Genitalverstümmelung von Frauen, zu denen nicht nur die Abtrennung der Klitoris oder Schamlippen, sondern auch das Zunähen der Vagina zählen.
  • Die weibliche Beschneidung kann zu vielen schweren, lebenslangen Gesundheitsproblemen führen. Dazu zählen unter anderem Komplikationen bei der Geburt, psychische Traumata, Schwierigkeiten beim Wasserlassen, Schmerzen während der Menstruation und des Geschlechtsverkehrs.
  • Kein Kind sollte diesen Qualen ausgesetzt werden. FGM verstößt gegen die Menschenrechte, unter anderem gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit.
  • In Afrika werden in 28 Ländern Frauen beschnitten – dazu gehören Somalia, Sudan, Kenia, Äthiopien, Sudan, Tansania und Uganda im östlichen und südlichen Afrika. Somalia hat die höchste FGM-Rate der Welt: Etwa 98 Prozent der Frauen mussten diesen Eingriff über sich ergehen lassen.

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*Name geändert

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