Der Céline Dion aus dem Armenviertel

Kitschige Liebeslieder, der Einkaufstrolley seiner Mutter und die Unterstützung der SOS-Kinderdörfer helfen dem 15-jährigen Maicol* in einem der ärmsten und gefährlichsten Viertel Kolumbiens nicht die Hoffnung auf ein besseres Morgen zu verlieren.

"Wer Musik macht, kämpft nicht. Wenn alle Leute Musik machen würden, wäre es hier viel friedlicher und wir hätten viel weniger Probleme", sagt Maicol. Dann greift der 15-Jährige auf dem Dach eines runtergekommenen Mietshauses in die Tasten seines ramponierten Keyboards. Schnarrend und scheppernd, aber mit viel Leidenschaft ertönt "My heart will go on and on" über Soacha, einem der ärmsten und gefährlichsten Elendsviertel am südlichen Stadtrand der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Während in den engen Gassen junge Männer versuchen mit billigen Drogen der Tristesse zu entfliehen, die Armut verzweifelte Mädchen zwingt, ihre Körper zu verkaufen, bewaffnete Banden mit Macheten und abgesägten Schrotflinten aufeinander losgehen und weinende Mütter nicht wissen, wie sie ihre Kinder satt kriegen sollen, spielt Maicol voller Hingabe Celines kitschigen Liebessong aus Titanic. Musik und die Unterstützung der SOS-Kinderdörfer helfen dem jungen Geflüchteten aus Venezuela, die Hoffnung nicht aufzugeben. 

Von seiner schmucklosen Bühne unter offenen Himmel kann Maicol seine Schule sehen, sie ist keine 100 Meter entfernt. Auf dem staubigen Schulhof ist seine schmachtende Musik jetzt zu hören. "Genau da, am Tor zum Eingang des Schulhofes, bin ich letztens überfallen worden. Ein paar Typen haben mir ein Messer an den Hals gehalten, dann haben sie mir mein Handy abgenommen", berichtet Maicol, nachdem die letzten Töne von "My heart will go on and on" verklungen sind. 

Neben dem Keyboard, das der Ex-Freund seiner Mutter ihm geschenkt hat, war sein Telefon Maicols wichtigster Besitz. Auf dem mit Rissen überzogenen Bildschirm schaute der Schüler sich YouTube-Klavier-Lehrvideos an und hörte immer wieder seine Lieblingssongs, bis er sie perfekt nachspielen konnte. Vor drei Jahren berührte Maicol das erste Mal ein Keyboard. Heute hat der Autodidakt, der nie Klavierunterricht hatte und keine Noten lesen kann, ein einstündiges Repertoire drauf, mit dem er jedem Hotelbar-Pianisten Konkurrenz machen kann. "Nur wenn ich Musik mache, kann ich mich entspannen. Die Lieder helfen mir, zumindest eine Zeit lang meine Ängste und Sorgen zu vergessen", sagt Maicol.

Musik gibt Maicol Hoffnung und Kraft, den schwierigen Alltag im Armenviertel zu meistern. Foto: Jakob Fuhr

Flucht aus Venezuela 

Ängste und Sorgen haben alle Menschen in Soacha. In den an den steilen Berghängen klebenden wellblechgedeckten Hütten und runtergekommenen Hochhäusern leben dichtgedrängt Menschen, die vor Armut und Diktatur aus dem Nachbarland Venezuela und den bewaffneten Konflikten in Kolumbien geflohen sind, ehemalige Guerilla-Kämpfer und Paramilitärs sowie Menschen, die sich aus anderen Gründen kein besseres Viertel leisten können oder hier untergetaucht sind. 

Maicols Mutter Deisy Muñoz strandete hier vor fünf Jahren. Alleine war sie vor einem gewalttätigen Partner und der Perspektivlosigkeit aus ihrer Heimat Venezuela geflohen. Zuvor hatte sie dort in Supermärkten, Restaurants und Bäckereien gearbeitet, doch seitdem die katastrophale Politik von Diktator Nicolás Maduro das Land in eine sich immer mehr beschleunigende Abwärtsspirale führt, sind in dem einst wohlhabenden Land nicht nur lebensnotwendige Medikamente, sondern auch viele Lebensmittel knapp oder unbezahlbar. Muñoz Lohn hatte ohnehin kaum gereicht, um ihre Kinder satt zu kriegen. Ihr Plan war es, im Nachbarland Kolumbien ein Zuhause zu finden und dann ihre Kinder Karin*, Jessy* und Maicol so schnell wie möglich nachzuholen. 

Mittlerweile leben Deisy Muñoz, ihre drei Kinder, die weiße Katze Copito (auf deutsch: Schneeflocke) und Hund Kira zusammen in einer winzigen Wohnung in Soacha. In der stickigen Küche bereitet Muñoz Kuchen, mit Fleisch und Gemüse gefüllte Teigtaschen sowie andere venezolanische und kolumbianische Spezialitäten zu. Anschließend packt sie sie in ihren Einkaufstrolley und zieht damit durch die Gassen ihrer gefährlichen Nachbarschaft, um sie zu verkaufen.  

"Hier gibt es viele böse Männer." 

Umgerechnet rund 125 Euro Miete zahlt Deisy Muñoz für die Küche, ein winziges Arbeitszimmer, in dem Maicol und seine Schwestern für die Schule lernen und ein Schlafzimmer unter dem rostigen Wellblechdach, in dem die Familie zu viert und ohne Privatsphäre schläft. 

"Wenn der Regen aufs Dach trommelt, finde ich es eigentlich ganz gemütlich. Aber wenn es zu doll regnet, regnet es rein. Und wenn es draußen warm ist, ist es in unserer Wohnung zu heiß. Und wenn es draußen kalt ist, frieren wir auch drinnen", erzählt Karin. 

Auch wenn sie glücklich ist, endlich wieder mit ihrer Mutter vereint zu sein, vermisst sie Venezuela, ihre Heimat. "Zuhause hatte ich Oma und Opa und meine Freunde. Alle Leute waren nett und haben immer Guten Tag gesagt, wenn man sie auf der Straße getroffen hat. Hier gibt es auf der Straße viele böse Männer, die Kinder entführen, um böse Sachen mit ihnen zu machen", erzählt die Siebenjährige. 

Gewalt, Drogen, Prostitution 

Soacha ist vor allem für Kinder ein angstmachender und manchmal auch gefährlicher Ort. Nachts hört man oft Schüsse. Deisy Muñoz Kinder sind mittlerweile so alt, dass sie ihnen nicht mehr erzählen kann, dass der Krach Gewitterdonner ist. Wenn die Schüsse besonders nah sind, legt die 33-Jährige sich mit ihren Kindern in ihrer Wohnung flach auf den Boden, um nicht von Querschlägern getroffen zu werden. 

"Gewalt, Drogen, Prostitution – was meine Kinder hier jeden Tag erleben, sollte kein Kind erleben. Die Polizei traut sich in viele Straßen gar nicht rein, weil die bewaffneten Banden dort das Sagen haben. Jedes Mal bevor Karin, Jessy und Maicol das Haus verlassen, bete ich, dass ihnen nichts passiert", sagt Deisy Muñoz. 

Doch die alleinerziehende Mutter verlässt sich nicht nur auf ihre Gebete, sie hat ihre Kinder auch zu Workshops der SOS-Kinderdörfer angemeldet. In Rollenspielen und Diskussionen mit anderen Kindern und Sozialpädagoginnen hat Karin dort viel über ihre Rechte erfahren und wie sie sich vor Gefahren schützen kann. "Ich habe gelernt, dass auch wir Kinder viele Rechte haben. Niemand darf uns schlagen. Niemand darf uns an Stellen anfassen, an denen wir nicht berührt werden wollen. Und wenn jemand etwas Böses tut, sollen wir es sofort unseren Eltern, netten Erwachsenen oder der Polizei sagen", so die Zweitklässlerin.

Deisy gibt als starke Mutter und Community Leader ihr Wissen an andere Frauen weiter. Foto: Jakob Fuhr

SOS-Kinderdörfer-Workshops machen Kinder stark 

Ihre ältere Schwester Jessy hat bei den Treffen mit anderen Kindern und Jugendlichen zudem gelernt, wie man sich vor Kriminellen schützt, die über die sozialen Medien Kindern und Jugendlichen nachstellen und wurde über die Gefahr der in Soacha allgegenwärtigen Drogen aufgeklärt. Außerdem hat die Elfjährige zusammen mit anderen Jugendlichen Parlamentsabgeordnete getroffen und ihnen gesagt, was sich in Soacha ändern muss, damit sie und andere Kinder und Jugendliche sich dort endlich wohler fühlen können.  

"Zusammen mit den Kindern und Jugendlichen sorgen wir dafür, dass die Stimme der Jugend gehört wird. So erleben die Jungs und Mädchen in Soacha Selbstwirksamkeit und dass sie trotz der schwierigen Bedingungen etwas erreichen können", sagt Sozialpädagogin Magda Moralez, die seit 15 Jahren für die SOS-Kinderdörfer arbeitet und im Rahmen des Familienstärkungsprogramms Karin, Jessy, Maicol und ihre Mutter betreut. Sie unterstützte die geflüchtete Familie unter anderem dabei sich, in Kolumbien offiziell zu registrieren, sodass die Kinder zur Schule gehen können und die Familie Zugang zum Gesundheitssystem erhielt. 

Auch Deisy Muñoz hat an Kursen der SOS-Kinderdörfer teilgenommen. In den Workshops hat sie viel gelernt, unter anderem über gewaltlose Erziehung und wie frau sich gegen geschlechtsspezifische Gewalt zur Wehr setzen kann. All das hat sie darin bestärkt, die toxische Beziehung mit ihrem Ex-Freund zu beenden. Mittlerweile gibt sie ihr Wissen und ihr neues Selbstbewusstsein als Community Leader an andere Frauen in ihrem Viertel weiter. Als sie während des Corona-Lockdowns nicht mit ihrem Einkaufstrolley durch die Nachbarschaft ziehen konnte, um Snacks zu verkaufen, unterstützten die SOS-Kinderdörfer sie und ihre Kinder zudem mit Lebensmittelpaketen.

Sozialpädagogin Magda Moralez arbeitet seit 15 Jahren für die SOS-Kinderdörfer, um Kinder und Eltern zu stärken. Foto: Jakob Fuhr

"Meine Mama ist mein großes Vorbild" 

Auf diese Unterstützung ist Deisy Muñoz schon lange nicht mehr angewiesen. Ihre venezolanischen und kolumbianische Spezialitäten sind mittlerweile im ganzen Viertel bekannt. Sie ist stolz darauf, dass sie es mit harter Arbeit schafft, ihre Kinder ganz alleine zu ernähren. "Ich glaube an mich selbst, und das verdanke ich auch Magda und den anderen Frauen von den SOS-KInderdörfern, die mich darin bestärkt haben, eine starke Frau zu sein und meinen eigenen Weg zu gehen." 

Auch wenn Deisy Muñoz nach zahlreichen Enttäuschungen nicht mehr daran glaubt, noch die große Liebe zu finden, singt sie während sie kocht und mit ihren Snacks durch die Gassen ihrer gefährlichen Nachbarschaft zieht, manchmal schnulzige Liebeslieder. Lieber singt sie jedoch trotzige Lieder. "Lauf ruhig weg, Liebling! Du hast es ja schon mal gemacht. Es ist mir egal! Ich werde Dir keine Träne mehr hinterherweinen", schmettert Deisy Muñoz inbrünstig über die Dächer von Soacha während Maicol sie auf seinem Keyboard begleitet.  

Jessy mag es, wenn ihre Mutter dieses Lied singt. Die Elfjährige findet, der kämpferische Song passe gut zu ihrer Mutter: "Ich bewundere meine Mama. Sie tut alles, damit wir es eines Tages mal besser haben als sie. Und sie lässt es nicht zu, dass irgendjemand uns oder sie schlecht behandelt. Sie ist eine tapfere Kämpferin. Meine Mama ist mein großes Vorbild."

* Namen der Kinder geändert

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