Damit in La Pista keine verlorene Generation heranwächst, holen die SOS-Kinderdörfer in einer trostlosen Siedlung auf einem stillgelegten Flughafen mit jungen Geflüchteten verpassten Unterrichtsstoff nach und kämpfen für das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung.
La Pista ist kein guter Ort, um Kind zu sein. Rechts und links der Startbahn (auf Spanisch La Pista) eines stillgelegten Flughafens ist in den letzten Jahren das größte Flüchtlingslager Kolumbiens gewachsen. Seit Beginn der Staats- und Wirtschaftskrise im nur wenige Kilometer entfernten Venezuela sind Tausende Verzweifelte nach La Pista geflohen. Sie hausen dort in aus Wellblech, Holz und Plastikplanen zusammenimprovisierten Hütten. Es gibt es kein fließend Wasser, oft fällt der Strom aus, nur wenige Bäume spenden in der Hitze Schatten, bei Regen stehen die Hütten oft unter Wasser. Malaria, Dengue und Durchfallerkrankungen grassieren, kriminelle Banden handeln im Lager mit Kokain und anderen Drogen, manchmal hört man nachts Schüsse, immer wieder kommt es zu (häuslicher) Gewalt, schon Kinder werden gezwungen, sich zu prostituieren.
Doch auch in La Pista gibt es einen guten, einen sicheren Ort. Die SOS Kinderdörfer haben direkt neben der Startbahn ein bunt gestrichenes Haus erbaut. Hier können Kinder spielen, malen, basteln, lachen, singen, tanzen, lernen, essen und mit Sozialarbeiter:innen angstfrei über ihre Sorgen und Probleme sprechen.
18 Jungs und Mädchen im Alter zwischen sieben und siebzehn Jahren und vier Sozialpädagoginnen der SOS-Kinderdörfer haben sich an einem Dienstagnachmittag im Kinderzentrum eingefunden. Über La Pista liegt wie jeden Tag eine brütende Hitze, aber durch die buntgestrichenen Bretter, die den Begegnungsort vom staubfarbenen Einerlei des Lagers abgrenzen, weht ein frischer Wind. Die Kinder sitzen auf Bänken an langen Tischen und basteln aus Holzstäbchen und Pappe kleine Häuser. Die Stimmung ist ausgelassen und konzentriert zugleich.
Das Kinderzentrum der SOS-Kinderdörfer in La Pista: ein Ort der Sicherheit und Geborgenheit. Foto: Jakob Fuhr
Wenn das eigene Zuhause nicht sicher ist
"Das Zuhause ist ein Ort, an dem Kinder sich sicher und geborgen fühlen sollten", sagt Sozialarbeiterin Darianna Daniela Garcia Aguilar. Die 28-Jährige weiß, dass die Realität in den windschiefen Hütten von La Pista für viele Kinder anders ist. Die Bastelei ist deshalb nicht nur eine die Kinder glücklich und stolz machende Beschäftigung, sie dient den aufmerksamen Sozialpädagoginnen auch als Mittel, um mit den Jungs und Mädchen auf sensible Weise über ihre häusliche Situation ins Gespräch zu kommen. Erhalten die geschulten Zuhörer:innen dabei Hinweise, dass die Kinder sich zu Hause nicht wohl und sicher fühlen, vereinbaren sie Hausbesuche, um mit den Kindern und ihren Familien unter anderem über gewaltfreie Erziehung, den Schutz vor sexuellem Missbrauch, Bildung, Hygiene und gesunde Ernährung zu sprechen.
Carolina, die mit Klebstoff gerade das Dach auf ihrem Häuschen befestigt, fühlt sich zu Hause sicher. "Aber meine Freundin hat hier mal erzählt, dass sie zu Hause geschlagen wird. Da sind die Sozialpädagoginnen der SOS-Kinderdörfer zu ihren Eltern gegangen und haben mit ihnen gesprochen. Seitdem wird meine Freundin nicht mehr gehauen", erzählt die 12-Jährige, die vor vier Jahren aus Venezuela geflohen ist und seitdem mit ihrer Mutter, ihrem kleinen Bruder, ihren Großeltern, zwei Tanten, und einem Cousin in einer Hütte in La Pista lebt.
Rollenspiele, Diskussionen zum Thema Kinderrechte, die eigenen Talente entdecken: Im Kinderzentrum lernen die Mädchen und Jungen ihr Leben aktiv in die Hand zu nehmen. Foto: Jakob Fuhr
Carolina verpasst keines der Treffen im Kindertreffpunkt von La Pista. Sie freut sich jedes Mal darauf hier ihre Freundinnen und Freunde zu treffen, zu singen, zu basteln und auch zu lernen. "Ich habe hier unter anderem gehört, dass alle Kinder das Recht haben, nicht geschlagen zu werden. Außerdem habe ich gelernt, dass mich niemand an Stellen anfassen darf, an denen ich nicht angefasst werden möchte", so die junge Geflüchtete. Sollte sie dennoch in eine gefährliche Situation kommen, weiß Carolina jetzt, wie sie sich verhalten muss: "Laut Hilfe rufen, zu Erwachsenen rennen, denen ich vertrauen kann, und wenn es sein muss, die Polizei rufen", fasst Carolina zusammen.
Talente entdecken und große Pläne schmieden
Die Arbeit der SOS-Kinderdörfer soll Kinder in La Pista nicht nur vor Gewalt schützen, ihnen helfen mit Rollenspielen mehr über ihre eigenen Gefühle rauszufinden und über ihre Emotionen zu sprechen sowie einfach ein paar unbeschwerte Stunden zu genießen, sie soll auch verhindern, dass im Flüchtlingslager eine verlorene Generation heranwächst.
"Viele Kinder haben durch die Flucht viel Unterrichtsstoff verpasst. Das kann dazu führen, dass sie später keine guten Jobs ergreifen und sich so nie aus der in La Pista herrschenden Armut befreien können. Wir holen hier deshalb auch verpassten Unterricht nach und bemühen uns, entstandene Bildungslücken zu schließen", berichtet Sozialarbeiterin Aguilar. Damit sie sich beim Lernen gut konzentrieren können, erhalten die Kinder, die teilweise unter Unter- und Mangelernährung leiden, bei jedem Treffen eine sättigende und gesunde Mahlzeit.
Da die Sozialarbeiter:innen der SOS-Kinderdörfer an den anderen Tagen mit Hausbesuchen in La Pista beschäftigt sind, können die Treffen im Kinderzentrum nur zweimal pro Woche stattfinden. Angesichts der vielen Probleme in La Pista, ist das viel zu wenig. Und dennoch helfen die regelmäßigen Treffen den Jungs und Mädchen sehr: "Die allermeisten Kindern, die regelmäßig zu uns kommen, vertrauen uns und erzählen uns von ihren Problemen, sodass wir gemeinsam nach Lösungen suchen können. Außerdem werden sie ausgeglichener und selbstbewusster, lernen ihre Talente kennen und nehmen ihr Leben aktiv in die Hand", berichtet Aguilar.
Auch Carolina, die sich besonders für die musikalischen Angebote und die Diskussionen zum Thema Kinderrechte des Kinderzentrums interessiert, macht jetzt große Pläne. Sie will Sängerin werden. Oder Rechtsanwältin für Kinder. Oder beides.