Zwangsheirat, Kinderehen, Missbrauch, Gewalt und andere Formen der Ausbeutung von Frauen und Mädchen sind in Afghanistan laut den SOS-Kinderdörfern stark angestiegen. Grund hierfür sei die inzwischen praktisch komplette Eliminierung der weiblichen Bevölkerung aus der Öffentlichkeit und ihre radikale Entrechtung durch die Taliban. "Die Islamisten haben den Frauen und Mädchen alles genommen: die Möglichkeit zu arbeiten, Bildung, Teilhabe, Freizeit", sagt Najia Afshari, Sprecherin von Kufa, einer Organisation, die seit der Machtübernahme der Taliban mit Unterstützung der SOS-Kinderdörfer Heimunterricht für Mädchen in Kabul bereitstellt.
Die Schule der Organisation in Kabul dürften inzwischen nur noch Jungen besuchen. Mehr als 80 Prozent der afghanischen Mädchen werde das Recht auf Schule verweigert, etwa 850.000 von 1,1 Millionen Studentinnen dürften keine Universität mehr besuchen und Frauen seien bis auf wenige Ausnahmen von der Arbeitswelt ausgeschlossen.
Humanitäre Krise
"Mädchen, die nicht zur Schule gehen, werden ihrer Zukunft beraubt, sie sind stärker gefährdet, früh- oder zwangsverheiratet zu werden. Und Frauen, die ihr Zuhause praktisch nicht verlassen und kaum soziale Kontakte haben, sind häuslicher Gewalt schutzlos ausgeliefert", so Afshari weiter. "Außerdem steckt Afghanistan in einer dramatischen wirtschaftlichen und humanitären Krise. Viele Familien haben deshalb Probleme, sich zu ernähren. Sie wären darauf angewiesen, dass auch die Frauen arbeiten. Stattdessen sehen sich viele gezwungen, ihre Töchter zu verheiraten, damit weniger Kinder mitessen."
Neben den massiven Folgen für die Frauen und Mädchen selbst, hätte der Zwangsalltag unter den Taliban auch drastische Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft. Afshari sagt: "Wenn die Mädchen nicht zur Schule gehen können und nicht studieren können, dann wird auch die Zahl der qualifizierten Arbeitskräfte in den kommenden Jahren stark sinken. Wir werden weniger Ärztinnen haben, weniger Lehrerinnen, Ingenieurinnen und Technikerinnen. Dabei brauchen wir sie dringend. Bildung ist nicht nur ein Recht, sie ist auch eine schlichte Notwendigkeit, um zu überleben."
Sanktionen gefordert
Afshari appelliert an die internationale Gemeinschaft: "Es ist bitter und schmerzt, aber unter den Taliban gibt es keine Hoffnung mehr für Frauen und Mädchen. Der Westen sollte endlich aufhören, an eine vermeintliche Mäßigung der Taliban zu glauben, sondern sie hart sanktionieren und dafür sorgen, dass Hilfsgelder und Güter direkt bei den bedürftigen Menschen ankommen."
Hintergrund
Klimawandel, Folgen der Pandemie, Krieg in der Ukraine, Aufstände im Iran, Erdbeben in Syrien und der Türkei - nie zuvor wuchsen Kinder in einer Zeit auf, in der sich so viele schwerwiegende Krisen überlagerten. Die mediale Berichterstattung lenkt dabei den Fokus der Öffentlichkeit vor allem auf Katastrophen mit einem aktuellen Bezug. Doch in zahlreichen weiteren Regionen auf der Welt kämpfen Kinder und Familien seit Jahren ums Überleben - im Schatten der Öffentlichkeit und auf humanitäre Hilfe angewiesen. In einer Serie gehen die SOS-Kinderdörfer Krisen nach, die weitgehend im Verborgenen stattfinden und zeigen auf, warum wir die betroffenen Menschen nicht im Stich lassen dürfen. Die Serie ist Teil der Kampagne #InDenFokus. Rund 30 deutsche Hilfsorganisationen haben sich zusammengeschlossen, um gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt vergessene Krisen in den Fokus zu rücken. Ziel ist es, das Bewusstsein für das Leid der Menschen zu schärfen, weltweite Notlagen, die in den Hintergrund geraten sind, wieder sichtbarer machen und über die Arbeit von Hilfsorganisationen vor Ort zu informieren. Über "Vergessene Krisen" in Bangladesch, Haiti, Malawi und anderen Ländern.