Die tiefen Narben der Gewalt

Wairegi aus Kenia wurde als Kind schwer von seinem Vater misshandelt. Wie er in ein glücklicheres Leben findet.

Ängstlich lauschte Wairegi* auf die zuschlagende Tür und die sich nähernden Schritte seines Vaters. Sein Vater quälte und verspottete ihn wegen seiner Noten und schrie ihn wegen der banalsten Dinge an. Nichts, was Wairegi tat, war gut genug. Wairegi war sechs Jahre alt, als sein Vater anfing, ihn zu schlagen.

 

Dieses Video wurde unter der aktiven Beteiligung von Wairegi gedreht.

"Mein Vater konnte mir nichts sanft sagen", erinnert sich Wairegi. "Die Schläge waren schrecklich. Ich dachte: Warum tut er mir das an?" Wairegi, der einst zu den Besten seiner Klasse gehört hatte, verlor seinen Eifer für die Schule und seine Noten wurden schlechter. Die Gewalt beeinträchtigte seine psychische Gesundheit zutiefst. 

"Zu dieser Zeit hatte ich große Schmerzen. Ich nahm hier und da Schmerzmittel, aber die Kopfschmerzen hörten nicht auf", sagt Wairegi. "Eines Tages kam ich von der Schule nach Hause und fühlte mich schlecht – sehr schlecht. Ich war allein zu Hause", fügt Wairegi hinzu. "Auf dem Regal stand eine Flasche mit Kerosin, und ich nahm ein oder zwei Schlucke. Ich lag da und wartete darauf, dass etwas passierte. Als meine Mutter abends kam, tat ich so, als wäre alles in Ordnung. Bis heute weiß sie nichts davon."   

Mit Unterstützung zu einem glücklicheren Leben 

Wairegi ist heute 19 Jahre alt. Er lebt mit seiner Mutter, Salome, und seinem jüngeren Bruder zusammen. Die Familie zog in ein Zweizimmerhaus in Mwiki, einem Vorort am Rande der kenianischen Hauptstadt Nairobi, um der Gewalt zu entkommen und Frieden zu finden.  

Bei Josephine Rombo fühlt Wairegi sich sicher und kann mit ihr seine Gefühle teilen. Fotos: Jakob Fuhr

Wairegi war 13 Jahre alt, als seine Mutter ihn zur Beratung in das Familienstärkungsprogramm der SOS-Kinderdörfer mitnahm. "Ich war ein glücklicher Mensch, der plötzlich still geworden war. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte."   

"Ich wusste nicht, wie ich meinen eigenen Sohn vor den Schlägen schützen sollte", sagt die 34-jährige Salome. "Mein Mann schlug ihn jeden Tag, bis sich eine Nachbarin beschwerte." Salome litt selbst unter häuslicher Gewalt durch ihren alkoholkranken Ehemann – auch dies hatte Wairegi schon oft miterleben müssen.  

In der Familienstärkung der SOS-Kinderdörfer lernte Wairegi die Psychologin Josephine Rombo kennen. Sein erster Besuch war kurz, aber er kam Woche für Woche wieder, weil er mit ihr über seine Gefühle und Gedanken sprechen musste. 

"Je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, desto mehr stellte ich fest, dass er sehr depressiv war. Die Depression schmerzte ihn so sehr, dass er vergangene Ereignisse aus seiner Kindheit nicht loslassen konnte."

Josephine Rombo, Mitarbeiterin der SOS-Kinderdörfer in Kenia

"Trotz der Gewalt liebte Wairegi seinen Vater und suchte nach dieser Vaterfigur. Aber je mehr er versuchte, sich an den Vater zu klammern, desto mehr griff dieser ihn körperlich und verbal an", erklärt Josephine.  

Die Gewalterfahrung hat Wairegi einen wichtigen Teil seiner Kindheit und seines Lebens geraubt. "Der Missbrauch hat mich zu einem schweigsamen, ängstlichen Menschen gemacht. Hätte ich keine schwierige Kindheit durchgemacht, wäre ich ein ganz anderer Mensch."

Die letzten 10 Prozent 

Wairegis erdrückende Last wurde nach vielen Therapiesitzungen und weiteren Sitzungen mit seiner Mutter und der Psychologin leichter. Josephine hat Wairegi ermutigt, sich mit seinem Vater zu versöhnen und die Gründe für die Gewalt zu erfahren, um damit abzuschließen. "Unsere Beziehung ist fragil", sagt Wairegi. "Aber mein Verhältnis zu meinem Vater war in den letzten fünf Monaten besser als in den letzten 18 Jahren."

Dank der Unterstützung durch die SOS-Kinderdörfer studiert Wairegi im zweiten Jahr an einer örtlichen Universität und erwirbt ein Diplom in Informatik. Es hat ihn Jahre der Therapie gekostet, um das zu erreichen, was er "90 Prozent Heilung" nennt. Er hat weiterhin Sitzungen mit Josephine – per Telefon, WhatsApp oder von Angesicht zu Angesicht.  

"Wenn ich diese Last vollständig los bin, kann ich frei sein. Ohne die Gespräche wäre ich an einem schlechten Ort. Vielleicht hätte ich mein Leben dort beendet. Jetzt habe ich den Mut, mich meinen Ängsten zu stellen, den Mut, morgens aufzuwachen und meine Meinung zu sagen."

WAiregi, Student aus Kenia

*Name geändert 

Abonnieren Sie unseren Newsletter

Erhalten Sie regelmäßig Informationen zu aktuellen Projekten.

Ihre Spende an die SOS-Kinderdörfer weltweit können Sie von der Steuer absetzen. Die SOS-Kinderdörfer weltweit sind als eingetragene gemeinnützige Organisation anerkannt und von der Körperschaft- und Gewerbesteuer befreit. (Steuernummer 143/221/91910)